Auf den Seiten 22 bis 25 des Strafurteiles:
gibt das Gericht wieder, was Philip selbst über seine
Vorgeschichte und sein angebliches Erscheinen am Tatort des Mordes berichtet haben soll.
Was Philipp über seine Vorgeschichte erzählt, erscheint dabei glaubhaft, doch dann kommt ein Riss,
dann beginnt bei eindeutig eine Märchenerzählung.
Interpretation der Aussagen des Philipp Jaworowski laut Urteil über seine
Vorgeschichte und sein angebliches Erscheinen am Tatort
Das, was Philipp Jaworowski über seine Chat-Kontakte erzählt, ist glaubhaft: Er hatte – abgesehen
von einem dreimonatigen Verhältnis, bei dem das Mädchen letztlich „Schluss“ machte, nie eine
Freundin gehabt. Demnach hat er sich enorm nach der Liebe eines Mädchens gesehnt, wusste
aber offenbar nicht, wie er daran kommen sollte. So war es für ihn wohl zugleich Zeitvertreib,
als auch der Versuch, das andere Geschlecht besser kennenzulernen, besser verstehen zu lernen,
dass er in der Maske von Frauen oder Mädchen auftrat, um auf dieser Basis dann möglichst
tiefgehende Informationen von Mädchen zu bekommen und sie auf dieser Basis möglichst gut
verstehen zu lernen.
Glaubhaft ist es auch, dass er dabei nicht daran dachte, mit den Chat-Partnerinnen sexuelle
Verhältnisse aufzubauen, denn dazu war die Vorgehensweise, falsch unter weiblichen Namen
aufzutreten, natürlich nicht geeignet, wie er ja auch selbst einräumt. Glaubhaft ist es auch,
dass er sich nicht für jüngere Mädchen interessierte, denn tatsächlich sehnt ein Mann sich
aufgrund seiner Natur nach einer Frau, die ihn zwar liebt und entsprechend mit ihm umgeht,
die ansonsten aber die Sache in ihre Hand nimmt
- LINK – , also nicht unterwürfig, sondern
als Managerin der Sexualbeziehung auftritt.
Das ist den Frauen in unserer Gesellschaft seit über tausend Jahren ausgetrieben, so
dass ein Mann darauf ggf. vergeblich wartet, aber natürlich kann sich ein Jugendlicher ein
solches Verhalten eher bei einer älteren als bei einer jüngeren Frau vorstellen. Ich kann Philipp
an der Stelle sehr gut nachvollziehen, weil ich weiß, welches meine größten Probleme im Alter
von 13 und 14 Jahren waren: Damals lispelte ich, damals meinte ich, mein Penis sei zu klein,
amals empfand ich mich nicht als hübsch, und im Ergebnis war ich viel zu schüchtern, um selbst
auf Mädchen zuzugehen.
Philipp hat eine dicke Brille, ist vom Typ her klein und unsportlich, dabei noch übergewichtig
aufgrund von Fast-Food-Vorlieben. Er sehnte sich einfach endlos nach wahrer Liebe, damit
ging es ihm nicht anders als den meisten anderen Jugendlichen auch. Sein Vorgehen,
die Frauenwelt undercover zu erforschen, um daraus für sein wahres Leben zu lernen, machte
da durchaus Sinn.
Das Ganze betrieb er professionell – über Jahre. Es ist sicherlich nicht leicht, hunderte von
Chat-Kontakten so zu organisieren, wie er es getan haben muss. Das bedeutet zugleich, dass
er in diesen Dingen sehr überlegt vorgegangen sein muss, belegt auch dadurch, dass er niemals
aufflog, obwohl er es offensichtlich sehr heftig betrieb.
Dass er berichtet, in einem Falle Nacktfotos an Dritte weitergegeben zu haben, sollte man nicht
überbewerten: Die Jugendlichen von heute sind keine Engel, es ist leider zur Normalität geworden,
verletzt zu werden und auch selbst zu verletzen, und auch, mit wie auch immer errungenen
„Trophäen“ zu protzen.
Dass er die Unterschlagung von Klassengeldern selbst dann noch bestritt, als sie nicht mehr
zu bestreiten war, deutet eher auf Hilflosigkeit als auf irgendetwas anderes hin: Vogel-Strauß-Strategie,
Kopf in den Sand stecken, anstatt Dinge auszufechten bzw. auszuräumen – auch damit ist
Philipp keine besondere Ausnahme; das Eingeständnis eigener Fehlleistungen ist für die Wenigsten
in unserer Gesellschaft selbstverständlich.
Bis dahin erscheint alles plausibel und glaubhaft, doch dann kommt der Riss:
1. Obwohl er in Jahren umfangreicher Internet-Chats nie auf die Idee gekommen war, aus einem seiner
Lügen-Chat Kontakte einen persönlichen Kontakt machen zu wollen, soll er auf diese Idee im Falle
der Nadine Ostrowski ganz spontan und plötzlich gekommen sein
Beleg
– obwohl er sich nicht einmal
sexuell für sie interessieren konnte, was ebenfalls glaubhaft ist: Nadine Ostrowski war mit Sicherheit
nicht die sexuell selbstbewusste Frau, die die Sache in ihre Hand nimmt und von der Philipp in Wahrheit träumte.
2. Die Vorstellung, dass der sexuell schüchterne und in sozialen Dingen wenig selbstbewusste Philipp J.
gegen Mitternacht bei ihm nur oberflächlich bekannten Leuten anschellen wollte, um mit der ihm nur
oberflächlich bekannten Tochter, von der er nicht einmal etwas wollte, zu reden
Beleg
, ist bereits absurd.
Als ich im damaligen Alter des Philipp war (19), war von meinen Selbstzweifeln und meiner Schüchternheit,
die mich im Alter von 13/14 enorm belastet hatten, absolut nichts mehr übrig. Ich hatte bereits eine Menge
an sexuellen Beziehungen hinter mir, die nahezu alle von mir beendet worden waren, sah auch in keinem Erwachsenen
mehr einen Menschen, dem ich nicht gewachsen sein würde. Ich war 1.82 groß, wog 72 bis 75 kg, lief 5.000 Meter
in 18 Minuten, schaffte 60 echte Liegestütze, war ein hübscher Bengel und in Worten äußerst schlagfertig.
Ich war verglichen mit dem 19-jährigen Philipp im selben Alter ein cooler Draufgänger, machte Sachen,
die andere sich nicht trauten.
Aber bei mir im Grunde fremden Leuten um Mitternacht anzuschellen, um mit der Tochter, die mir persönlich
nicht einmal nahestand und von der ich nicht einmal etwas wollte, über irgendetwas reden zu wollen – das
wäre mir nicht in den Sinn gekommen: Das, soviel wäre mir auch damals klar gewesen, hätte so oder so
nicht segensreich ausgehen können. Ich hätte es also erstens nicht gewollt, zweitens aber auch nicht gewagt,
obwohl ich in dem Alter aus einem ganz anderen Holz geschnitzt war als der schüchterne Philipp.
Philipp gibt das im Grunde auch selbst zu, indem er erklärt, auf eine solche Idee sei er vorher niemals
gekommen, etwas vergleichbares habe er vorher niemals gemacht.
3. Hätte mir jemand glaubhaft 1000 Mark dafür angeboten, dass ich um Mitternacht bei mir im Grunde fremden
Leuten schellen würde, um mit der mir nur sehr oberflächlich bekannten Tochter zu reden, dann hätte ich das
gemacht – wenn mir ein gutes Konzept eingefallen wäre, um jedenfalls ohne Gesichtsverlust aus der Sache
herauszukommen. So ging Philipp J. im Grunde auch vor – überlegt, wie seine gut organisierten Massenchats,
bei denen er oftmals intime Dinge herausbekam, eindeutig belegen.
Doch welches soll das Konzept von Philipp J. gewesen sein, um das mitternächtliche Anschellen zu begründen?
Lausigste Ausreden! Wetter-Wengern ist ein Dorf, dort kennt jeder jeden zumindest vom Ansehen her. Dort
wohnte Nadine, dort wohnte Philipp. Philipp war den Eltern der Nadine keineswegs völlig unbekannt, und
sicherlich wussten sie auch, dass er in Wetter-Wengern wohnte. Und denen hatte Philipp Jaworowski im Falle
eines Falles erzählen wollen, dass er sich in Wetter-Wengern verfahren habe und deshalb um Mitternacht bei
ihnen angeschellt habe -
Beleg
? Mit solch einer „Notausrede“ in der Tasche hätte ich es an solcher Stelle befürchtet,
dass Nadines Vater mich achtkantig vom Grundstück werfen würde! Unter diesen Umständen hätte ich das
vielleicht für 10.000 Mark gemacht, aber nicht einmal für 1.000 Mark!
Der angebliche Besuch des Philipp Jaworowski soll also völlig ungeplant, völlig sinnlos und zudem keineswegs
unriskant gewesen sein – wer lässt sich schon gern zurecht beschimpfen und verfluchen? „Höre mal, willst Du
mich verar*? Siehe bloß zu, dass Du Land gewinnst!“ – mit einer solchen Reaktion, ob von Nadines Vater
oder von Nadine selbst, hätte Philipp Jaworowski solange rechnen müssen, wie er keine sozial akzeptable
und glaubhafte Ausrede vorweisen konnte. Die Ausrede, die er nennt („verfahren“), hätte den Vater, s.o.,
höchstens noch wütender gemacht, weil sie natürlich als billigste Lüge erkannt worden wäre. Und in den
nächsten Tagen wäre es in Wetter-Wengern und unter den Oberstufen-Gymnasiasten in ganz Wetter das
Thema gewesen: „Philipp war so verrückt, um Mitternacht bei den Ostrowskis anzuschellen, und musste
das Feld wie ein geprügelter Hund räumen!“ Diese Dinge sind tatsächlich jedem klar – doch Philipp soll
sich darüber hinweg gesetzt haben?
Der schüchterne Philipp, der sich in Sachen Frauen sonst ganz genau überlegte, wie weit er nach seiner
Einschätzung gehen konnte, soll also alle Regeln seines langjährigen sehr vorsichtigen Verhaltens schlagartig
über Bord geworfen haben, das auch noch, ohne einen nachvollziehbaren Grund gehabt zu haben, überhaupt
mit Nadine reden zu wollen, das auch noch in einer Lage, in der sich selbst kalkulierende Draufgänger
gesagt hätten: „Das kann nicht gutgehen, das fasse ich erst gar nicht an!“
An der Stelle beginnt eine Märchenerzählung.
|