Beschreibung des Dissertationsprojekts von Robert Walter (2004)

Kulturindustrie und Subjektivität

Eine tiefenhermeneutische Theorie der Medienaneignung

 

1. Forschungsthema und theoretische Ausrichtung

In der soziologischen und politikwissenschaftlichen Medienforschung wurde herausgearbeitet, dass die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, von den Rezipienten und Rezipientinnen als Orientierungsangebote für die Gestaltung des Alltags und damit auch des politischen Verhaltens angeeignet werden und eine mindestens genauso bedeutende Sozialisationsinstanz wie Familie und Schule geworden sind. Zudem haben die Medien die soziale Funktion einer Spiegelung und Verstärkung gesellschaftlich mächtiger Entwicklungstendenzen. Doch in den Diskursen über die Medien ist die Bewertung der Qualität der Medienprodukte und der Stellenwert ihrer Wirkungen auf die Rezipienten umstritten. In meiner Dissertation werde ich deshalb in Anschluss an Arbeiten, die aus der kritischen Theorie und der tiefenhermeneutischen Medienforschung hervorgegangen sind, eine systematische Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Theorien und empirischen Studien zu den Massenmedien und ihrer Aneignung durchführen. Es soll die Frage diskutiert werden, welche Rolle die Massenmedien bei der Inszenierung von Politik sowie der Umgestaltung der Gesellschaft spielen und wie sie sich auf die politischen Denk- und Handlungsmuster der Individuen im flexiblen Kapitalismus auswirken.

Meine Analyse der Massenmedien und ihrer Aneignung ist dabei von einer Doppelperspektive geleitet: Zum einen versteht sie sich als Fortsetzung der Theorie der Kulturindustrie, wie sie von Theodor W.Adorno konzipiert worden ist. Zum anderen möchte ich die subjektive Dimension der Medienaneignung mit den von den älteren Autoren der kritischen Theorie angewandten, später vor allem von Alfred Lorenzer weiter gedachten Mitteln einer sozialpsychologischen, zur tiefenhermeneutischen Kulturanalyse zugespitzten Kritischen Theorie des Subjekts untersuchen. Während die erstgenannte Perspektive die objektiv- gesellschaftliche Funktion der Massenmedien für die Reproduktion von bestehenden Herrschaftsverhältnissen ins Visier nimmt, richtet letztere im Rahmen einer tiefenhermeneutischen Theorie der Subjektivität die Aufmerksamkeit auf den Widerspruch in den Medienrezipienten von bewussten und unbewussten Schichten der psychodynamisch zu verstehenden Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Verarbeitungsformen der Medienkultur. Die dialektische Vermittlung dieser beiden Erkenntnisperspektiven soll im Sinne der kritischen Theorie dazu führen, sowohl der relativen Autonomie von Individuum und Gesellschaft als auch ihrer unhintergehbaren Verflechtung gerecht zu werden.

2. Projektleitende Hypothese

Das Interesse an Mitbestimmung und Wahrnehmung von Partizipationsrechten im Rahmen eines verfassungsrechtlich geschützten demokratischen Staates wird auch durch die Logik der fast nur noch an Verwertungsinteressen ausgerichteten Massenmedien in Frage gestellt. Die Medienprodukte und ihre vielfältigen Anschlüsse in der Alltagskultur repräsentieren gesellschaftliche Tendenzen von Entpolitisierung, Ablehnung von demokratischen Institutionen und autoritären Einstellungen: Populär ist die obsessive Beschäftigung mit „privaten" und intimen Themen, deren Zusammenhang mit Politik und Gesellschaft aus dem Blick gerät. Dies ist ein Diskurs der Normalisierung von an Politik und gesellschaftlicher Verantwortung desinteressierten Lebensentwürfen, in denen die Umstände ihrer historischen, politischen und gesellschaftlichen Situation nicht mehr hinterfragt werden. Besonders betroffen von den entpolitisierenden Auswirkungen der Massenmedien sind die unteren Schichten der Gesellschaft, die über weniger Zugang zu Information, Wissen und Bildung verfügen und deswegen zur kritiklosen Identifikation mit den von den Medien gelieferten Weltdeutungen und latenten Handlungsanweisungen neigen.

Die von den Medien produzierten Illusionen und Mythen über die soziale Wirklichkeit tragen dadurch zu einer neuen, „postmodernen" Form von Ästhetizismus bei, zu einer irrationalistischen Haltung zur Welt, die dem Anspruch auf Aufklärung und Demokratie entgegensteht. Dies geschieht im Zusammenhang mit den Veränderungen der Gesellschaftsstruktur zum neoliberalen, postfordistisch organisierten Kapitalismus, die vor allem von den konservativen und wirtschaftspolitisch neoliberal orientierten Regierungen in der Ära „Reagan, Thatcher, Kohl" seit den achtziger Jahren durchgesetzt wurden und von den sozialdemokratischen Regierungen fortgeführt werden. Die Auswirkungen dieser Politik – wie die wachsenden Globalisierungszwänge, die zunehmende Politikverdrossenheit, die Schwächung der organisierten Arbeitnehmerschaft, die Militarisierung der Außenpolitik, die Eindimensionalisierung des Lebens, Denkens und Fühlens – sind wichtige Probleme der Gegenwart. Die öffentliche Diskussion über gesellschaftliche Alternativen – so meine These – wird von den populären Massenmedien ausgeblendet.

Die Gesellschaft hat sich in Teilöffentlichkeiten ausdifferenziert; stabile soziale Milieus und die damit verbundenen politischen Orientierungen lösen sich zunehmend auf. Damit zusammenhängend verändern sich die Persönlichkeitsstrukturen, die auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren müssen – es kommt zur Herausbildung einer „postmodernen Subjektivität". Die Individuen stehen in größerem Ausmaß als bisher vor dem permanenten Problem, für die Sicherung und Stabilität ihrer Psyche sorgen zu müssen, weil die früher Halt gebenden Traditionen fragwürdig und unverbindlich geworden sind. Die ehemals von Großorganisationen wie den „Volksparteien", den Gewerkschaften oder den christlichen Kirchen und deren jeweiligen Programmen und Weltdeutungen geleistete Integration von Bevölkerungsmehrheiten schuf auch die Integration der Industriegesellschaft insgesamt. Durch die Fragmentierung und Flexibilisierung der Arbeits- und Lebenswelten, die durch die postfordistische Umstrukturierung in Gang gesetzt wurden, lösen sich die soziokulturell und sozialpsychologisch stabilisierenden Funktionen dieser lebensweltlichen Sinnkonstruktionen auf und es entstehen vermehrt Identitätskrisen, wie in der Forschung über die Veränderung von Lebensläufen und Persönlichkeitsstrukturen herausgearbeitet wurde.

Die neuen Formate des Intimitätsfernsehens wie Talkshows, Gerichtsshows oder die Daily Soaps stellen Angebote zur Verfügung, die Kompensationen für den Verlust tradierter Integrationsmechanismen ermöglichen. Die Komplexität der Wirklichkeit wird aber in den Mythen der Medien zu irreführenden, ja verfälschenden Illusionen simplifiziert. Die Autorität, die etwa die Fernseh-Bilder aufgrund ihrer vereinfachenden und sprachsymbol-zerstörenden Wirkung haben, bannt das diskursiv-denkende Bewusstsein der Zuschauer und fördert affektiv-vorurteilsvolle Einstellungen. Mit den Mitteln der tiefenhermeneutischen Medienanalyse will ich einen Beitrag zur sprachlich-diskursiven Rekonstruktion der von den medialen Inszenierungen unkenntlich gemachten gesellschaftlich-politischen Zusammenhänge leisten.

Denn im Bann der (Fernseh-) Bilder regredieren die ehemals noch zu Argumentation gezwungenen Herrschaftsstrategien zu scheinbar selbstevidenten Mythen, in denen soziale Ungleichheit und Herrschaft allein deshalb als legitimiert erscheinen, weil sie bestehen. Diese werden zunehmend mit Alltagsreligion erklärt und verklärt. An diese von den Massenmedien produzierten Mythen können autoritative, nationalistische, antisemitische, rassistische oder sexistische Ideologien anschließen, mit denen die Komplexität der Wirklichkeit in von tradierten Vorurteilsstrukturen geprägten Welt-Bildern eingerahmt wird. Die vielfältigen Ängste, die durch die gesellschaftlichen Entwicklungen evoziert werden, drohen sich somit zu leicht verfolgbaren (Feind-) Bildern zu verdichten.

Ziel meiner Arbeit ist es, zu einer wissenschaftlich fundierten Wieder-Versprachlichung der in verwirrenden und widersprüchlichen Bildern transportierten manifesten und latenten Botschaften der medialen Inszenierungen zu gelangen, um sie in eine anzustrebende öffentliche Debatte über die Möglichkeiten einer anderen Medien- und Gesellschaftspolitik einzubringen.

3. Stand der Forschung

In der gegenwärtigen Medienforschung besteht ein breiter Konsens über den hohen Stellenwert der Massenmedien für die Beeinflussung aller Bereiche der Gesellschaft wie Politik, Wirtschaft, Erziehung und Bildung. Die historisch entstandene, unauflösliche Wechselwirkung der medialen und sozialen Realität ist anerkannt. Die Vermischung von Unterhaltung mit der Verbreitung von Information und Politik brachte den Begriff „Politainment" hervor. Neben diesen allgemein anerkannten Thesen gibt es in der derzeitigen Medienforschung aber erhebliche Differenzen, was die Bewertung der „Qualität" der Medienprodukte und deren Auswirkungen auf die Rezipienten betrifft und wie die medialen Inszenierungen einzuschätzen sind. Es haben sich zwei Diskurse herauskristallisiert, die ich im Folgenden kontrastieren werde, um meinen Ansatz in der gegenwärtigen Medienforschung zu verorten.

Vor allem im Kontext der Medienanalysen der Cultural Studies wird eine demokratische und progressive Funktion der durch Politainment charakterisierten Massenmedien behauptet. Die Vermischung von Unterhaltung und Politik sei keineswegs bedenklich oder gar gefährlich, sondern verweise auf die Veränderung von Mustern politischen Engagements. Die Aneignung der Medien sei gekennzeichnet durch eine „Politik des Vergnügens", welche die Rezipienten zur aktiven Umgestaltung ihrer Lebensverhältnisse bewege. „Der produktive Zuschauer" montiere sich aus dem reichhaltigen und vielfältigen Angebot der Medien seine persönlichen Erlebnispräferenzen, um in der „medialen Erlebnisgesellschaft" seinen Alltag so lebenswert wie möglich zu gestalten. Die neue Form des Fernsehen schaffe eine posttraditionelle Öffentlichkeit, in der neue Spielarten von demokratischen, emanzipatorischen und utopischen Lebensentwürfen konstruiert werden würden. Aufgrund ihrer gestiegenen Medienkompetenz würden die Rezipienten nicht auf Verfälschungen der sozialen Realität hereinfallen, sondern im Gegenteil die medialen Sinnkonstruktionen autonom in ihre jeweiligen Lebenswelten und Alltagskontexte einbauen. Die Politik des Vergnügens ermögliche das lustvolle Spiel mit Identitätskonstruktionen und sei eine Bereicherung der Phantasie der Rezipienten. Die Vereinfachung komplexer sozialer Verhältnisse hätte auch den Vorteil einer „Veranschaulichung" und „Verlebendigung" politischer Probleme und könne zu ihrer kreativen Lösungsfindung beitragen. Eine solche Sicht auf die Medien steht im Widerspruch zu den Forschungsergebnissen der kritischen Medienforschung:

Diese zeigen in ihren empirischen Analysen die destruktiven und angsterzeugenden Strukturen, Inhalte und Wirkungen, welche etwa die neuen Formate des Fernsehens aufweisen. In Deutungen von Gruppeninterviews zur Talkshow „Arabella" haben U. Prokop/Stach/Welniak nachgewiesen, auf welche Weise diese Art des Fernsehens bei ihren Zuschauern die Nachahmung aggressiver Verhaltensmuster erzeugt. Holler-Loock hat ebenfalls die alltagsrelevante Übernahme von autoritären, vorurteilsvollen und ausgrenzenden Interaktionsformen am Beispiel von Inhalts- und Publikumsanalysen zur „Harald Schmidt- Show" aufgezeigt. Schaffer hat nachgewiesen, dass die Talkshow „Sabine Christiansen" alles andere als ein republikanisches Forum für eine demokratische Öffentlichkeit ist und Kötter zeigt in seiner Untersuchung zur Spielshow „Der Schwächste fliegt" die Brutalität einer auf repressive Kontrolle, instrumentellen Leistungszwang und Gehorsam zielenden „Spielkultur" in den Medien auf. Und in ihrer Untersuchung zu der Docu Soap „Big Brother" analysiert Ulrike Prokop die medial inszenierte Gestaltung des Geschlechterverhältnisses, die die Reproduktion traditioneller Rollenmuster anbietet und alternative Lebensentwürfe von Männlichkeit und Weiblichkeit desymbolisiert.

Auch ich konnte in meiner tiefenhermeneutischen Analyse der täglichen Talkshow „Andreas Türck" nachweisen, wie die Gäste solcher Sendungen im Rahmen von gruppenpsychologischen Dynamiken erniedrigenden Interaktionen ausgeliefert sind, die auf öffentliche Demütigung und Zerstörung der persönlichen Integrität hinauslaufen. Nur die Identifikation mit autoritären Verhaltensmustern schützt die Gäste dieser Form Talkshows vor der Erniedrigung durch Moderator und Publikum – durch Strukturen von „Führer und Gefolgschaft". Die scheinbar harmlose Talkshow-Unterhaltung konnte in meiner Arbeit als besonders für Jugendliche verführerisch wirkende Inszenierung von sadomasochistischen und autoaggressiven Interaktionsformen analysiert werden, die im Spannungsfeld von Angst und Lust autoritäre und gewaltförmige Phantasien und Handlungsmuster hervorruft.

Aufgrund dieser empirischen Analysen vertritt die kritische Medienforschung die Auffassung, dass das Fernsehen in den letzten Jahrzehnten seine Funktion als „demokratische Institution" weitgehend abgestreift hat. Der verfassungsgemäße Auftrag, den die öffentlich-rechtlichen Sender bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland erhielten, nämlich die Öffentlichkeit in demokratisch-freiheitlichem Geist zu informieren und zu bilden sowie eine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung auszuüben, wird fragwürdig. Durch die symbiotische Vermischung der an Kriterien der Wahrheitsfindung orientierten Darstellung der Welt mit den Elementen der Unterhaltung und des Vergnügens besteht die Gefahr, dass die Kritikfähigkeit der Menschen – und damit auch ihre soziale und politische Handlungsfähigkeit – massiv und langfristig beschädigt wird. Die Frustration über politische Einflusslosigkeit wird mit den von den Massenmedien wie dem Fernsehen bereitgestellten „illusionsstiftenden Trostangeboten" kompensiert. In den Bildern dieser Form des Fernsehens herrschen Irrationalität und unbewusste Phantasien vor, was sie für politische Propaganda anschlussfähig macht. Daher kann im Sinne der tiefenhermeneutischen Medien- und Sozialforschung diesbezüglich von einer massenmedialen „Produktion von Unbewusstheit" gesprochen werden.

In meiner Dissertation will ich aus der oben skizzierten gesellschaftstheoretisch- tiefenhermeneutischen Doppelperspektive heraus eine bisher in der vorliegenden Forschungsliteratur nicht systematisch entfaltete theoretische Auseinandersetzung mit den Positionen der Medienaneignungsanalysen der Cultural Studies führen.