Kreuz und Adler , Teil 01

der familiensonntag

Torben Holten saß zwischen seiner älteren Schwester Heike und seiner Mutter Hilde, wie jeden Sonntag ganz vorn in der Nähe des Altars. Wie haßte er doch den sonntäglichen Kirchgang, das Stillesitzen auf den kalten Holzbänken über kühlem Stein, das ehrfurchtsvolle Schweigen der anwesenden Gemeinde, während die kalt und steinern  klingende Stimme des Gemeindepfarrers Rübsam ihm stets das gleiche zu verkünden schien, als wolle sie immer und immer wieder jeden einzelnen Stein des Fußbodens umdrehen. Selbst das Licht der Sonne wagte sich nur kühl gedunkelt in diese Kirche, denn die großen Fenster aus dunkelfarbigen Gläsern verweigerten allem den Zutritt, was ihr Licht an warmer Helligkeit bot. Torben schien es, als drohe er mit den Holzbänken zu verwachsen, als wolle das weiß gekälkte Kirchgewölbe ihn auf jene hinabdrücken, so daß jeder Versuch, aufzustehen und zu fliehen, ohne jede Aussicht auf Erfolg bleiben müsse.

Zudem saß er ja inmitten der Reihe, flankiert von seiner keine Regung zeigenden Schwester, die zwischen seinem Vater und ihm eingeklemmt war, und von seiner Mutter, der einzigen in der Familie, die womöglich einen höheren Sinn in Rübsams Gottesdienst erkennen wollte, indem sie jenen wahrlich als Sprachrohr Christi anzusehen schien, durch das ihr sonntäglich die Verkündigung des Evangeliums zuteil werde. Torben hatte es immer noch nicht herausgefunden, ob seine Mutter den Pfarrer Rübsam so sah, ihn so sehen wollte oder ob sie gar Gründe hatte, nur so zu tun, als sähe sie ihn so. Wie jeden Sonntag während der Predigt streifte Torben auch diesen Gedanken, wie jeden Sonntag fand er Anhaltspunkte für das eine, das zweite und das dritte, aber sicher klären konnte er die Frage so wenig wie stets zuvor. Etwas erträglicher wurde ihm die Situation, auch wie jeden Sonntag, dadurch, daß er seinen Vater und seine Schwester ebenfalls auf das Ende des Gottesdienstes schmorend warten wußte.

Seinen Vater, der durch sein Verhalten jede beliebige Eigenschaft vorzuspiegeln wußte, der, wenn er sich aber gab, wie er war, bestenfalls für den zu ertragen war, der ungezügelter Demütigung mit Leidenschaft entweder ausgesetzt sein oder ihr zumindest beiwohnen konnte. Torben haßte seinen Vater, der andere nach seiner Meinung herabsetzte und beschädigte, um vor sich selbst nur als umso strahlender dazustehen, dessen ganzes Tun Torben nur eine einzige Lüge zu sein schien.

Es war nicht ungewöhnlich, daß der Vater die Mutter in die Verzweiflung trieb, daß ihre Augen tränten und schwollen, daß sie jede Lebenslust auf Tage verlor, sich nur mit einem eisernen Durchhaltewillen von einem Tage zum nächsten zu retten schien und sich dabei bemühte, wenigstens die Situation der Kinder erträglich zu gestalten. Wenn sie auch durchaus geschickt versuchte, ihr Leid nach außen zu verbergen, so sprachen die tiefen Falten, die sich weit vor der Zeit in ihr Gesicht gegraben hatten, unvermeidlich die Wahrheit. Torben liebte die Mutter, konnte es aber nicht verstehen, daß sie sich, statt sich zu wehren, klaglos in ihr Schicksal fügte. Wenn dieser Gottesdienst tatsächlich der Mutter Entspannung oder gar Freude gab, so hatte er ein Gutes, zudem wurde der Vater ja durch die wöchentliche Predigt nach Torbens Ansicht immerhin etwas, wenn auch viel zu wenig bestraft.

 

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Torbens Schwester hingegen,

die, zwei Jahre älter als Torben, gerade 14 war, sich in arroganter Weise aber stets anmaß, sie sei bereits so gut wie erwachsen, er, Torben, sei jedoch noch das Kind; die alles besser wissen wollte, ihn hinsichtlich der Pflichtaufteilung stets zu übervorteilen suchte, schien Torben mit der wöchentlichen Predigt gerade im rechten Maße bestraft zu werden. Aber was half es ihm hier und jetzt, ihm, dem völlig grundlos durch die Predigt gestraften?

Nicht einmal nach Nette Jakobs konnte Torben seinen Blick schweifen

lassen, ohne daß ihm der Zorn der Eltern gewiß gewesen wäre. Dabei

wußte er ganz genau, daß Nette, wie jeden Sonntag, nur wenige Reihen

hinter ihm saß, in ihrem weißen Rüschenkleid, in ihren weißen Schu-

hen und den weißen Kniestrümpfen, um wie er selbst der ehrfurchtsvollen

Versteinerung preisgegeben zu sein. Sehen durfte Torben nur nach

vorn, zu dem scheinbar unaufhörlich predigenden Pfarrer Rübsam und zu

dem Kreuz, das hoch hinter Rübsam an der Wand hing, schräg ge-

stellt, so daß der leidende Christus jedem Kirchbesucher ins Ge-

sicht zu sehen schien. Losgelöst von jedem Eindruck, der Torbens

Interesse ernsthaft hätte auf sich ziehen können, wanderte sein

Blick Sonntag für Sonntag irgendwann auf das Gesicht des hölzernen

Christus, und es bohrte ihn die Frage, wie Leid und Frieden

zugleich in ein Gesicht geschrieben sein konnten. Wie schrek-

klich mußte es doch sein, an ein Kreuz genagelt zu sein, dabei stets

auf diese kalten Bänke und den kalten Boden zu sehen, niemals das

warme Licht der Sonne zu erblicken und noch weniger zu spüren, dafür

oft den langweiligen und öligen Predigten des Pfarrers Rübsam aus-

gesetzt zu sein. Das Leid des hölzernen Christus meinte Torben wohl

in all seinen Einzelheiten nachempfinden zu können, doch wie konnte es

sein,

daß dieses hölzerne Gesicht zugleich den Eindruck vermittelte, es

hadere nicht mit seinem schlimmen Schicksal, sondern sei mit diesem und

sich im

Frieden? Obwohl Torben diese Kirche haßte, schien es ihm doch, als

sei er irgendwie mit diesem hölzernen Christus verbunden, der sich

wie er in ausgesprochen unbequemer Situation befand, auch wenn er,

anders als Torben, darin seinen Frieden zu finden schien. Während Torben

sich in

diesen Gedanken verfing, schien sich alles außer diesem hölzernen

Christus und ihm selbst aufzulösen, so daß er, wie jeden Sonntag,

gelegentlich einen kleinen Stoß von der Mutter erhalten mußte, um zu

begreifen, daß es Zeit war, gemeinsam mit den anderen Kirchbesuchern

und Pfarrer Rübsam zu beten oder zu singen.

Wie jeden Sonntag ging auch dieser Kirchbesuch zu Ende, auch

wenn mit dem Verlassen der Kirche Torbens Qualen noch längst kein

Ende fanden. Ach, wie freundlich wurde Torbens Vater von allen ge-

grüßt, der Herr Amtsrichter Holten, der zugleich im Kirchenvorstand der

Gemeinde und in unzählig erscheinenden Vereinen vertreten war, so daß

fast jeder meinte, nach der Kirche noch ein paar Worte mit ihm wechseln

zu müssen, von Sonntag zu Sonntag immer wieder darauf hinweisend, wie

stolz der Herr Holten doch auf seine Familie sein könne, wie

sehr Heike sich doch zur vornehmen jungen Dame entwickle und wie gutge -

raten er, Torben, doch sei. Auch wenn es längst zu Torbens ein-

geübten Verhaltensweisen gehörte, zu Komplimenten solcher Art artig-

verlegen zu lächeln, so fragte er sich dabei doch stets, ob der dem

hölzernen Christus ins Gesicht geschriebene Frieden womöglich da-

mit zu tun haben könne, daß jenem solch schwül erbrachte Freundlichkei-

ten erspart blieben.

 

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Während Torben sich wieder einmal derart den gesellschaftlichen

Pflichten seiner Familie hingab, wanderten seine Augen entlang der

noch vor der Kirche versammelten Kirchgänger, auf der Suche nach

einem weißen Rüschenkleid, weißen Kniestrümpfen und weißen Schuhen.

Denn Eines war heute anders als an den bisherigen Sonntagen: Während er

bisher Nette zwar am Rande wahrgenommen, seine Aufmerksam-

keit aber stets darauf gelenkt hatte, welche Blicke seine Schwester

trafen und welche Blicke diese ihrerseits wohin fallen ließ, hatte er

diesmal ein eigenes Interesse.

Nette war der Gegenstand seines Interesses anläßlich des heuti-

gen Kirchbesuches, nachdem dieses rothaarige und sommersprossige

Mädchen mit der großen Nase und den viel zu kleinen Ohren ihm

nach der letzten Schulhofprügelei unerwarteterweise ein Taschen-

tuch gereicht hatte, damit er sich sein Blut hatte von der Nase wischen

können. Sie hatte dabei kein Wort gesagt,doch der Blick, den sie ihm aus

ihren blauen Augen dabei zugeworfen hatte, schien ihm all die helle

Wärme zu enthalten, die von den Fenstern der Kirche Rübsams zuverlässig

ausgesperrt wurde. Und das, obwohl Torben gegen den gemeinen Jens Wal-

ters nicht gerade gut ausgesehen hatte. Torben war sich seither sicher,

daß Nette etwas hatte, was andere Mädchen nicht hatten.

Nachdem er seine Augen eine Weile hatte schweifen lassen,

sah er direkt in Nettes blaue Augen, während sie artig neben

ihren Eltern stand, die ihrerseits Artigkeiten mit anderen Kirch-

gängern auszutauschen schienen. Wie gern wäre er zu ihr hingegangen,

hätte sie in den Arm genommen und gesagt:"Laß und hier verschwinden,

hier sind wir völlig fehl am Platze." Doch dies hätte nicht nur

zu familiärem Ärger auf beiden Seiten geführt, sondern er spürte in

Nettes blauen Augen auch wieder die Freundlichkeit, die so anders war

als die schwülen Freundlichkeiten, die um ihn herum ausgetauscht wur-

den, so daß er ganz verlegen wurde und errötet zur Seite sah. Wie

gut traf es sich da ausnahmsweise, daß gerade der Rechtsanwalt

Fidelius an der Reihe war, seine Artigkeiten gegenüber Torbens

Vater auszuschütten, und dabei Torben direkt ansprach:"Na Torben,

in Deinem Anzug siehst Du ja schon aus wie ein angehender Rechts-

anwalt, oder möchtest Du lieber Richter hier in Albring werden,

und Deinem Vater in die Fußstapfen treten?" Am liebsten hätte Torben

erwidert, daß er sich lieber an das Holzkreuz in der Kirche nageln

ließe, bevor er Herrn Fidelius oder seinem Vater in die Fußstapfen

folgte, doch um allen Problemen möglichst einfach aus dem Wege zu

gehen, antwortete er:"Ich weiß es noch nicht, Herr Fidelius. Mein

Vater sagt immer, ich solle mich erst einmal in der Schule anstrengen."

- "Gut geratener Junge, Herr Holten! Aus dem wird bestimmt mal was!"

Und weiter ging es, ohne daß Torben gefragt war.

Wieder begann Torbens Blick zu schweifen, nach dem weißen

Rüschenkleid und dem Mädchen mit den roten Haaren, der großen

Nase und den viel zu kleinen Ohren, das so freundlich aus seinen

blauen Augen sah, daß ihm beinahe bange werden konnte. Leider war

sie samt ihrer Familie nun verschwunden, doch dafür erschien nun

Pfarrer Rübsam persönlich bei Familie Holten, so daß das unwider-

rufliche Ende des sonntäglichen Kirchgangrituals offenbar bevor-

stand. Rübsam kannte Torbens Vater Rainer schon von der Schul-

bank und war ein alter Bekannter der Familie.

Nach Torbens Erfahrungen war daher auch davon auszugehen,

daß dieser letzte Abschnitt des Kirchbesuchs von besonderer Schwü-

ligkeit getragen werden dürfte. "Guten Tag, liebe Familie Holten! Ich

 

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freue mich, Ihr Lieben, daß ich Euch wieder einmal in unserer

Kirche begrüßen durfte. Es ist doch schön zu sehen, daß es vorbildlich

intakte Familien gibt, und Kinder und Jugendliche, die auf-

merksam die Worte Gottes und Christi erhören." - "Lieber Harm-Jens,

Du weißt doch, welch schweres Amt ich zu tragen habe. Woher soll

ich die Kraft dafür nehmen, wenn nicht aus meinem Bekenntnis zu

Gott und Christus? Wie könnte ich für Gerechtigkeit sorgen, wenn

ich nicht voller Ehrfurcht zur höchsten Gerechtigkeit aufblickte?

Wie könnte meine Familie in christlichem Glücke leben,

wenn wir nicht immer wieder das Wort des Herrn suchten?

Deine Predigt heute hat es wieder einmal in ganz besonderer Weise

vermocht, die Botschaft Christi zu verkünden. Dies ist nicht

nur wichtig für Hilde und mich, sondern gerade auch für Heike und Tor-

ben,

die erst dabei sind, erwachsen zu werden, und dabei fester Werte

und klaren Glaubens bedürfen. Wie froh bin ich da, daß auch unsere

Kirche sie dabei an die Hand nimmt. Wenigstens hier bei uns in Albring

ist die Welt noch in Ordnung." Torben wunderte es nicht, daß weder

sein Vater noch Pfarrer Rübsam auf Einzelheiten der Predigt ein-

gingen. Schließlich kannte er seinen Vater, der kaum mehr Aufmerksam-

keit für

die öligen Predigten Rübsams übrig haben konnte, als Torben selbst, so

daß es ihm wohl unmöglich sein mußte, auf Einzelheiten der Predigt

einzugehen. Auch der Umstand, daß sein Vater stets den geringsten Ver-

such unterlassen hatte, nach der Kirche oder zu irgendwelchen

anderen Zeitpunkten auf die Worte des Predigers Rübsam hinzuweisen,

ließ Torben gewiß sein, daß sein Vater von Rübsam leicht der Heuchelei

zu überführen sein mußte.

Es schien, wie so oft, als ob Pfarrer Rübsam solches wußte, erahnte

oder es zumindest instinktiv unterließ, Rainer Holten hinsichtlich der

Predigt auf den Zahn zu klopfen. Torben war darüber recht

froh, da es ihm dadurch ebenfalls erspart blieb, seine Haltung

gegenüber Rübsams Predigten zu offenbaren. Auch Heike, die sogar

schon mehrfach versucht hatte, sich dem familiären Kirchgang zu

entziehen, konnte nach Torbens Überzeugung kein Interesse an einer

Nachlese der Rübsamschen Predigt haben.

Nur Torbens Mutter, sie hätte vielleicht

gern über die Predigt gesprochen. Wenn, dann hielt sie sich und ihr

Wollen aber zurück, wie sie es immer dann tat, wenn sie sich

nicht völlig sicher war, daß sie sich andernfalls keinen Ärger auf-

lud.

So blieb es wie immer

beim Austausch von schwülen Freundlichkeiten, und der sonntägliche

Kirchgang ging für Torben zu Ende.

Kaum war die Kirche außer Sichtweite, so begann der familiäre

Teil des Sonntags für Torben. Während Torbens Vater über die

Woche mit Arbeit, Vereinsleben und diversen anderen Dingen

ausgelastet war, die sich Torbens Einblicken in Teilen entzogen,

er sogar den Samstag häufig für jene Zwecke nutzte, so war es

doch seine eiserne Regel, den Sonntag als Familientag zu ver-

bringen. Torben wußte es nicht, was seinen Vater letztlich

dazu brachte, diesen Familientag unbedingt Sonntag für Sonntag

einzuhalten, wobei es selbstverständlich war, daß die Sonntage

nach seines Vaters Gusto zu verlaufen hatten. Nicht,

daß er sich an diesen Sonntagen stets als unerträglich dar-

gestellt hätte; im Gegenteil, er konnte sehr jovial, unterhaltsam

und in besten Situationen sogar charmant zu seiner eigenen Frau,

 

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Torbens Mutter, sein. Die Rolle des Gönners schien ihm gelegent-

lich ebenso zu gefallen, wie in anderen Fällen die des auf Demüti-

gung zielenden Tyrannen, und er hatte, das mußte Torben zugeben,

wirklich Talent, jede Rolle echt zu spielen. Hatte Torbens Va-

ter also einen wirklich gönnerhaften Sonntag auf dem Plan, was

sich zum Beispiel darin äußerte, daß er den Rest der Familie schon

Tage zuvor wohlwollend um Gestaltungsvorschläge bat, so blickten Torben,

Schwester und Mutter beruhigt, teilweise gar mit Freuden auf den kommen-

den Sonntag.

So gab es Sonntage,

die wirklich von allen als so ersprießlich angesehen wurden, daß

zumindest für kurze Zeiten gemeinsames Familienglück

von jedem gespürt wurde. Es gab aber auch Sonntage, die unsäglich

verliefen, und dabei auch solche, die heiter begonnen hatten.

Dreie bangten mehr oder weniger, einer entschied, wie die Sonntage

verliefen - es ging eben nach dem Gusto von Rainer Holten.

Für den heutigen Tag war ein Besuch

bei den Großeltern mütterlicherseits angesetzt; Torbens Vater hatte

die Kontakte mit den Großeltern ähnlich eingerichtet, wie seine

Kirchbesuche: Feste Abstände, feste Zeiten, niemals ohne Termin.

Torben, der sich mittlerweile neben seiner Schwester auf dem Rück-

sitz der Familienlimousine befand, fühlte sich bei den Groß-

eltern nicht übermäßig wohl, da er über den Sandkasten im Garten

längst hinausgewachsen war und sich, wie seine Schwester, völlig sicher

war, daß ein auf eigene Faust verbrachter Sonntag wesentlich in-

teressanter sein würde, als das Herumsitzen an Familien-

tafeln. "Na Hilde, wie fühlt man sich, wenn man neben einem Manne

steht, den alle verehren und den jeder kennt?" begann Torbens Vater

das aus seiner Sicht wichtigste Resümée des Kirchbesuchs. Die ihm

nach dem Gottesdienst beigebrachten schwülen Freundlichkeiten

hatte er nicht nur genossen, er beabsichtigte sogar, wie oft nach der

Kirche, sie noch ein wenig im Nachhinein auszuweiden.

"Wir haben ein Haus, sind wohlhabend, alle verehren und achten mich

hier in Albring, und Du darfst all dies genießen, weil ich Dich ge-

heiratet habe, Hilde", schob er nach. Torbens Mutter sagte nichts. Es

war ihr

nicht neu, solches von ihm zu hören. "Aus dem Dorf" habe er sie

"herausgeholt", sie hätte es ohne ihn nie geschafft, in solchen Ver-

hältnissen zu leben; wenn er ganz gemein wurde, be-

gann er gar, in unverschämtester Weise Kritik an dem durch

seinen Terror geschundenen Gesicht seiner Frau auszuüben. Torbens

Mutter hatte es sich längst angewöhnt, auf Demütigungen durch

ihren Mann nicht zu reagieren, um ihn bloß nicht noch weiter zu

treiben und seine Demütigungen nicht so weit zu steigern, bis sie wie-

der weinen mußte. Diese Taktik war aber zweischneidig, denn es konnte

durchaus sein, daß der Vater besonders wütend auf das Ausbleiben

jeder Reaktion reagierte, wenn ihm einmal unbedingt nach Streit war.

Was dem Rainer Holten vermutlich am liebsten gewesen wäre, verweigerte

Hilde

ihm aber unentwegt: Sie sagte ihm niemals, daß sie wirklich in

irgendeiner Weise froh sei, ihn zum Ehemanne zu haben. Während

in der Familienlimousine eine Stille entstanden war, die jeden

auf irgendein Wort eines anderen warten zu lassen schien, meldete sich

Torbens Schwester Heike plötzlich zu Wort:

"Nicht nur Mutter darf Dich genießen, wir dürfen Dich auch genießen,

Vater. Würde es Dich glücklich machen, wenn wir Dir nun sagten,

daß wir heilfroh seien, gerade Dich zum Vater zu haben ?",

 

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bemerkte sie, die es offenbar im Sinn hatte, der

Mutter Entlastung zu stellen, indem sie sich selbst nach vorn warf.

Torbens Spannung war geweckt, Heike war, anders als die Mutter,

durchaus nicht geneigt, zu allem Ja und Amen zu sagen. Gerade in der

letzten Zeit hatte sie begonnen, verbalen Widerstand gegen die

Selbstherrlichkeit und Tyrannei des Vaters zu bieten. Der Vater

nahm den Handschuh willig auf:

"Gerade Du, mein liebes Kind, weißt es natürlich ganz

besonders zu schätzen, daß Du Klavierunterricht nehmen darfst,

daß ich Dir deine Reitstunden bezahle und Dich nicht, wie

Tausende deutscher Väter es mit ihren Kindern tun,

sexuell mißbrauche." Weder Heike noch Torben waren je sexuellem

Mißbrauch oder auch nur solchartiger Belästigung durch den Vater

ausgesetzt gewesen, beide waren sich auch darin sicher, daß es nie so-

weit kommen würde. Torben führte diese Sicherheit allerdings

vor allem darauf zurück, daß sein Vater offenbar keinen

Hang zum Sex mit seinen Kindern zu haben schien. Auch Heike

wußte jedenfalls, daß der rohe Hinweis nicht als Drohung, son-

dern als Ausdruck zynischer Einstufung der Tochterrolle von ganz

weit oben herab zu verstehen war,

darauf zielend, sie demütigend abzuschmettern oder aber sie noch zu

provozieren, um sie dann nach einigen Stufen der Eskalation nur

umso unbarmherziger abzufertigen. "Für den Klavierunterricht be-

danke ich mich ganz besonders herzlich. Im Übrigen bin ich Dir

doch dankbar genug. Würdest Du mich nämlich sexuell bedrängen, dann

würde ich Dir zwischen die Beine treten und Dich anzeigen." Damit setzte

Heike zum Erstaunen Torbens neue Maßstäbe. Auch wenn diese Drohung

mangels möglich scheinender sexueller Übergriffe nur hypothetisch war -

so etwas hatte sie dem Vater noch nie gesagt. Sie war der verbalen

Eskalation des Vaters offenbar bewußt gefolgt, es schien, als hätten

sowohl Vater als auch Tochter die Absicht, diesmal einer Klärung

der Rollen näherzukommen.

Heike setzte noch eines darauf:"Daß Herr Fidelius und Konsorten so

um Dich herumscharwenzeln, liegt nur daran, daß Du im Falle eines

Falles das tust, was sie wollen. Sie machen nicht Dir den Hof, sondern

einem angeblich unabhängigen Amtsrichter, der ihnen gefällig ist. Hinter

Deinem Rücken werden sie Dich wohl auslachen, während Du Dich in ihren

verlogenen Schmei-

cheleien vor uns sonnst." Heike sprach ihrem Bruder Torben

aus dem Herzen, zu offensichtlich mußte sie recht haben. Torben war

nun gespannt, wie sein Vater reagieren werde, derart hart auf

den ganz einfachen Punkt angestoßen, daß er im Grunde ein Nichts sei,

nur aus einer äußerst fragwürdigen Ausnutzung seiner Position heraus

in der Lage seiend, seinen eitlen Illusionen Nahrung zu geben. Das war

nicht Rebellion, das war ein Umsturzversuch - die Schwester schien einen

Entwicklungssprung gemacht zu haben, von dem Torben bisher nichts

gewußt hatte und der offenbar auch von dem Vater nicht einkalkuliert

war. Einen kurzen Moment schien der Vater zu schwanken; auch wenn er

grundsätzlich bereit war, Kritik einfach unsachlich abzutun, so

war hier darauf gezielt worden, ihn insgesamt in Frage zu stellen.

Dem Rainer Holten war vernichtende Kritik von seinem eigenen Fleisch

und Blut

geboten worden. Torbens Vater wurde knallrot und begann heftig zu

toben:"Welche Natter habe ich an meinem Busen genährt! Wenn mir

das jemand anderes

sagen würde, den würde ich fertigmachen, daß er hier in Albring

für immer erledigt wäre. Wenn es Dir bei uns nicht gefallen

sollte, wäre es vielleicht das Beste, ich schickte Dich auf ein Inter-

nat, möglichst weit weg von Albring, am besten nach Amerika."

 

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Torbens Vater war außer sich."Hilde, sage mir, wie kommt unsere Toch-

ter zu solchen Unver-

schämtheiten? Hetzt Du sie etwa gegen mich auf, oder hat sie

die falschen Freunde?" Torbens Mutter war bereits sehr ängst-

lich und unruhig geworden. "Ich weiß es nicht Rainer, aber na-

türlich fordere ich von ihr stets, daß sie Dir mit Achtung gegen-

übertrete. - Heike, wie konntest Du das sagen! Entschuldige Dich

gefälligst bei ihm!" Die von der Mutter halb herausgeschluchzten,

halb herausgequälten Worte schienen weder Torbens Vater noch

seine Schwester zu interessieren, wohl, weil beide wußten, daß es

auf sie nicht ankam. Auch Hilde Holten wußte sicherlich, daß es auf

ihre Worte nicht ankam.

Rainer Holten wandte sich wieder an Torbens Schwester:

"Heraus damit, wie kommst Du dazu, mir solche aus der Luft ge-

griffenen Unverschämtheiten an den Kopf zu werfen?" Torben war

von Spannung ergriffen; wenn es Heike nicht gelänge, nun

Punkte zu machen, so würde der Vater sie in die Mangel nehmen.

Er hielt seiner Schwester beide Daumen, aber zog es vor,

nach außen hin jeden Eindruck von Parteilichkeit bei dieser Aus-

einandersetzung zu vermeiden. Heike:"Du sagst es doch selbst, daß

Fidelius und die anderen Anwälte ohne Dich einpacken müßten, daß

sie alle das Meiste Dir zu verdanken haben. Wie kann es denn

kommen, daß die Anwälte in Albring Dir mehr zu verdanken haben als

sich selbst? Und wem haben sie es zu verdanken - dem Rainer Holten

oder dem Richter Holten?" Donnerwetter, dachte Torben, dem

seine Schwester nun richtig sympathisch schien. Es war tatsächlich

Gang und Gäbe, daß der Vater sich im engen Familienkreise

brüstete, wer alles doch wirklich auf ihn angewiesen sei, daß z.B. der

aus seiner Sicht juristisch unfähige Fidelius seinen mit Abstand

lukrativsten Kunden, das reiche Familienunternehmen Westerstett,

schon längst verloren hätte, wenn er, Rainer Holten, nicht wäre,

der sich gelegentlich sogar einsetze, um Richterkollegen auf die

Spur richtiger juristischer Beurteilungen zu führen. Torben wußte

auch, daß solche Darstellungen des Vaters nicht gänzlich an der

Wahrheit vorbeigehen konnten. Schließlich hatte er es in der Öffentlich-

keit bereits aufgeschnappt, daß Familie und Unternehmen Westerstett

in Albring als juristisch unbesiegbar galten. Doch nie zuvor hatte

er den klaren Schluß gezogen und die Rolle des Vaters so sehr auf den

Punkt gedacht - noch weniger hätte er es gewagt, dem Vater solches

zu sagen. Torben fühlte gewaltigen Respekt vor dem Mut der Schwester

und vor der Klarheit ihrer Gedanken, die frei jeder subjektiven

Einschätzung von Ungehörigkeit nur auf belegbare Fakten und die

Gesetze der Logik gerichtet schienen. Nun war er ungeheuer

stolz auf seine Schwester, und wollte es jetzt auch gern

zugeben, daß sie wirklich schon erwachsener war als er. Den Vater

bis zum Siedepunkte aufzukochen, um ihn zur Begründung dieses

Tuns mit seinen eigenen Worten zu konfrontieren, erschien Torben

jedenfalls als genial. Der Vater mußte dies wohl auch so sehen,

denn er raste:"Sei froh, daß wir in wenigen Momenten bei Oma

Grethe und Opa Heinrich sind. Aber wir werden später noch weiter-

sehen, du schäbiges Schandmaul." Er versuchte, seine letzten Worte

besonders drohend klingen zu lassen, denn offensichtlich erkannte

er, daß er hart ausmanövriert worden war. Nicht nur, daß Heike ihn

kühn und intelligent angegangen war - sie hatte auch den denkbar

besten Zeitpunkt abgepaßt, nämlich während der kurzen Auto-

fahrt von der Kirche zu den Großeltern, die sicherlich bereits mit dem

servierbereiten Essen warteten. Dort aber, so schien klar, würde

Rainer Holten diesen ihm unangenehmen Streit nicht fortsetzen wollen.

 

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Torben fragte sich, ob seine Schwester dies alles kalkuliert hatte

oder ob es sich zufällig so gefügt hatte - vielleicht war sie schon

richtig erwachsen? Neben dem Haßbild des Vaters und der gütigen,

aber viel zu schwachen Mutter, als daß Torben Achtung vor ihr hätte

haben können, schien es ihm nun, als ob er zumindest in gewissen

Dingen ein Vorbild in der Familie habe. Er stieß seine Schwester

unauffällig an und zeigte ihr, für den Vater, der gerade den

Wagen einparkte, nicht zu sehen, das Zeichen Churchill's im Kampf

gegen den Diktator Hitler, die zum V-gespreizten zwei Finger. In

ihren Augen sah er nun, daß die gelungene Attacke sie alle Kraft ge-

kostet haben mußte und sie sich durchaus zu fragen schien, was sie nun

wohl zu erwarten habe. Torben war es pötzlich ganz besonders klar,

weshalb er sich herausgehalten hatte.

Der Empfang durch Großmutter Grethe und Großvater Heinrich, die

Eltern der Mutter Torbens, war nie ungetrübt freudig, denn zumindest

Großmutter Grethe schien wohl zu ahnen, wie das Eheglück ihrer Toch-

ter einzustufen war, spätestens, nachdem jene einen Selbstmord-

versuch wenige Monate nach ihrer Heirat mit Rainer Holten begangen

hatte, was sich in der Familie nicht hatte verheimlichen lassen.

Dieses Mal aber war der Empfang in besonderem Maße gestört,

denn Torbens Mutter hatte Tränen in den Augen und zitterte, was

Torben im Auto nicht hatte wahrnehmen können. Torbens Vater machte

einen wenig freundlichen Eindruck, er schien noch mit sich

zu kämpfen, nur Torbens Schwester wirkte wieder gefaßt.

So schien das Gesicht der Großmutter weniger erfreut als viel-

mehr besorgt, und sie konnte nicht umhin, zu fragen: "Hilde, sag,

was ist passiert?" Wie selbstverständlich übernahm Torbens Vater es

sofort, diese an die Mutter gerichtete Frage auf seine Weise zu

beantworten: "Deine Enkeltochter hat auf Hildes Nerven herum-

getrampelt, liebe Schwiegermutter. Hilde wird durch die

Erziehung Heikes offenbar überfordert, so daß wir

bereits überlegen, ob wir Heike auf ein Internat schicken müssen.

- Heike, von mir möchte ich gar nicht reden, tue aber bitte wenig-

stens Deiner Mutter und Deinen Großeltern den Gefallen, den sonntäg-

lichen Frieden nicht auch noch hier zu brechen, kaum eine halbe

Stunde, nachdem Du das Haus Gottes verlassen hast."

Torbens Vater hatte sich wieder gefangen - mit der Miene des

zurecht anklagenden Vaters und mit kühler Emotionslosigkeit hatte

er den wahren Sachverhalt verschleiert, Heike als die einzig

Schuldige dargestellt und es ihr fast unmöglich gemacht, zu seinen

Unverschämtheiten noch Stellung zu nehmen. Als Gipfel gekonnter

Infamie war es nach Torbens Ansicht zu werten, daß sein Vater

dann noch die Mutter in den Arm nahm und ihr zur Kenntnis-

nahme aller leise zusprach:"Beruhige dich, liebe Hilde, ich werde

es nicht weiter zulassen, daß dieses Kind Dich fertigmacht."

Torben war sich völlig sicher, daß jeder Außenstehende seinem Vater

auf den Leim gegangen wäre, so gut hatte er gespielt. Selbst der Um-

stand, daß Torbens Mutter nun noch zu schluchzen begann, konnte immer-

hin als zur Darstellung des Vaters passend verstanden werden. Heike

war blaß geworden und schien, als wolle sie etwas sagen, könne aber

nicht. Das Maß infamer Lüge, das Rainer Holten hier im engen

Familienkreis gegen seine eigene Tochter aufgeboten hatte, setzte

nach Torbens Meinung neue Maßstäbe und schien seiner Schwester die

Kraft oder den Willen zu nehmen, sich zur Wehr zu setzen. Rainer

Holten hatte seine Welt wiederhergestellt. Dennoch, auch darin war

Torben sich sicher - jeder der Anwesenden wußte, wer hier wen fertig-

machte, ohne daß dies seinen Vater gestört hätte, solange niemand

 

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seiner Darstellung widersprach.

Der Besuch bei den Großeltern verlief dann ohne besondere Vorkommnisse,

wenn auch kaum ein Wort geredet wurde, außerhalb der von Torbens

Vater geführten Monologe und der von ihm in Gang gesetzten und in Gang

gehaltenen Gespräche. Es war nicht Frieden, es schien aber jeder seine

Gründe zu haben, so zu tun, als ob Frieden sei.

auf dem schulhof

Der beginnenden Schulwoche hatte Torben mit gespannter Erwartung

entgegengesehen, konnte es sich doch nicht vermeiden lassen, daß sei-

ne Wege die von Nette Jakobs kreuzen würden. Nette war im Jahrgang di-

rekt unterhalb Torbens Jahrgang und hatte einen ganz anderen

Schulweg als Torben, doch begegnete man sich zwangsläufig im Bereich

der Schule. So froh er einesteils darüber war, Nette wieder zu begegnen

und ihrer tiefen Ehrlichkeit und Wärme womöglich näher zu kommen,

so fürchtete er sich andererseits auch davor: Wie sollte er gerade

ihr begegnen, die ihm so leuchtend anders erschien, als alles andere

um ihn herum in seinem Leben? So wie er innerlich verächtlich auf

seinen Vater, Fidelius und Rübsam hinabsah, so wie es ihm völlig

zweifelsfrei schien, daß er jenen moralisch weit überlegen war, so

fragte er sich nun, ob er der von ihm nahezu verherrlichten Nette

wirklich in die Augen sehen konnte, oder ob er nicht soweit

von der Reinheit ihres Wesens entfernt sei, daß er schamgebeugt sein

Haupt senken müßte, stünde sie vor ihm. Dann waren da noch die Klas-

senkameraden, die es wohl auf seine Kosten ausweiden würden, be-

kämen sie Ruch von Torbens plötzlich entstandener Vorliebe für ein

Mädchen, das unter den Jungen nicht gerade im Rufe stand, etwas Beson-

deres zu sein.

Hin- und hergerissen von solchen Gedanken, brach der Schulalltag

am Geschwister-Scholl-Gymnasium unweigerlich über ihn herein.

Was ihm bislang nie aufgefallen war,

bemerkte er noch vor der ersten Stunde: daß Nette montags offenbar

erst zur zweiten Stunde Unterricht hatte; jedenfalls sah er weder

sie noch jemand anderen aus ihrer Klasse. Er war sich selbst nicht

sicher, ob er darüber nun froh oder unfroh sein solle, aber ir-

gendwie fühlte er sich erleichtert, der Begegnung mit Nette erst

einmal entgangen zu sein.

So war es zunächst ein Schultag wie jeder andere für Torben, wobei

er es gewohnt war, den Lehrstoff jeweils ohne Mühe und Beschwerlich-

keiten aufzunehmen und, sofern er wollte, schriftlich wie mündlich

zu glänzen. Für viele Fächer bestand auf seiner Seite sehr ernst-

haftes Interesse, das nur gelegentlich gestört wurde, wenn ein

Lehrer nach Torbens Auffassung nervte. Und was ihn alles nerven

konnte: Herr Bölkow erschien stets unvorbereitet und füllte

zeitliche Lücken seiner Lehrimprovisationen mit abschweifenden

Erzählungen, hatte auch schon einmal eine komplette Klassenarbeit

"verloren", Frau Schmaling war Verfechterin höchster Penibilität,

wenn es etwa um die Ordnung von Heften bis hin zur Beschriftung

der Löschblätter ging, andererseits gelang es ihr nie, auch nur eine

Unterrichtsstunde ohne hysterischen Anfall zu absolvieren, und der

desolate Zustand ihres Gebisses ließ erahnen, daß sie es mit der

 

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Körperpflege längst nicht so genau nahm wie mit der Beschriftung

von Löschblättern. Dann gab es aber auch Lehrer wie Herrn Fischer,

die nicht nur den Stoff gut vortrugen, sondern es auch vermochten, sich

gleichermaßen Respekt wie auch Sympathie der Schüler zu verschaffen,

oder die Frau Behrends, für die die Jungen der Klasse zudem derart

schwärmten, daß sie deren Unterricht vor allem an heißen Sommertagen

stets gern entgegensahen. Wie an jeder anderen

Schule gab es auch hier gute Lehrer - doch selbst die konnten Torben

nerven, nämlich indem sie ihn lobten und ihn so in einer Art und Weise

in den Mittelpunkt des Interesses rückten, die ihm durchaus nicht

angenehm war. Er hatte schon ernsthaft in Erwägung gezogen, zwischen-

durch einmal absichtlich eine "Drei" oder "Vier" zu schreiben, um

Tendenzen in der Klasse, ihn zum Streber zu stempeln, entgegenzu-

wirken. Andererseits hielten sich solche Tendenzen aber auch in ihm

noch erträglich scheinenden Grenzen, da er Mitschüler abschreiben

ließ, ihnen gar Mogelzettel reichte und er zudem nie von seinen Noten

Aufhebens machte. Auch mied er es, sich bei Lehrern anzubiedern, eben-

so vermied er es aber auch, sich bei ihnen unbeliebt zu machen.

Am besten gefiel er sich in der Rolle des unbeachteten Betrach-

ters, wenn er aber in den Mittelpunkt besonderen Interesses rückte

oder dorthin gerückt wurde, so wurde ihm das fast so schwer wie der

Blick in die blauen Augen Nettes.

Nun saß Torben in der Geschichtsstunde bei Herrn Fischer, der gerade

die Hintergründe der protestantischen Reformation in Deutschland

vortrug. Die Verquickung und Vermischung des kirchlichen mit dem welt-

lichen Adel, Herr Fischer vermied es stets, von der "Geistlichkeit"

zu sprechen, Luxushang und Dekadenz statt gelebter Christlichkeit sei-

en die damaligen Markenzeichen des deutschen Katholizismus gewesen, und

zwar derart überdeutlich, daß alle Stände laut Klage erhoben und

letztlich sogar Teile der kirchlichen wie der weltlichen Macht es

als notwendig erkannt hätten, den Mißständen entgegenzutreten.

Veranlaßt durch den päpstlichen Ablaß, der Freikauf von Sünde zur

Finanzierung der Peterskirche angeboten habe, sei Luther dann kritisch

in die Öffentlichkeit gegangen. Herr Fischer sprach ausführlich über

die Kritik Luthers an dem maroden System der Kirche, und er ging,

obwohl er seine eigene Religiösität den Schülern gegenüber stets im

Unklaren belassen hatte, sehr intensiv darauf ein, welche Vorwürfe Lu-

ther gegenüber der Kirche erhoben hatte. Torben kannte Herrn Fischer,

der geschichtliche Fakten in interessanter Form darbot, der dann aber

stets dazu überging, Ansichten und Interpretationen der Schüler zu

erfragen, um dann mit ihnen gemeinsam die wesentlichen Punkte heraus-

zuarbeiten, so daß er sich bereits inhaltlich mit der Kritik Luthers

befaßte. Torben war heute besonders gewillt zu glänzen, da er durch

einen neuzugezogenen Mitschüler starke Konkurrenz in allen Fächern

bekommen hatte. Dem Neuen mußte, so meinte jedenfalls Torben, ein-

mal gezeigt werden, wie die Verhältnisse lägen.

Kaum hatte Herr Fischer die erwartungsgemäße Frage gestellt, was

denn von der Kritik Luthers und seinen Forderungen zu halten sei,

schnellte Torbens Hand zur Meldung in die Luft. Nur eine andere

Hand war genauso schnell oben gewesen wie die Torbens - die von Dennis

Schulze, dem Neuen. Herr Fischer schien auch die exakte Gleichzeitig-

keit der Meldungen erkannt zu haben, denn er schwankte mit seinem

Blick irritiert zwischen beiden hin und her, wohl überlegend, wem er

den Vorrang geben solle. Irritationen waren bei Herrn Fischer aller-

dings stets nur von kurzer Dauer, weil bei ihm sehr schnell

Erkennen und zielgerichtetes Umsetzen der Erkenntnisse zu folgen

pflegten. Zudem hatte er, ohne wirklich unfair zu werden, den Hang,

 

- 11 -

Schüler zu frotzeln und Dinge zynisch ironisierend auf den Punkt zu

zu bringen.

All dies mag hier zusammengestoßen sein, als Herr Fischer sagte:

"Ich weiß es wirklich nicht, wem von Euch beiden ich den Vorrang ge-

währen soll: Dem evangelisch-lutherischen Kirchgänger Torben oder dem

vom Religionsunterricht befreiten Dennis. Torben, ich nehme an, als

praktizierender Lutheraner wirst Du Dich schon intensiv mit Luthers

Thesen befaßt haben. Vielleicht solltest deshalb Du beginnen."

Nun war Torben irritiert. Weshalb war er Herrn Fischer, der nicht im

Orte wohnte, als Kirchgänger bekannt? Und wurde nun etwa von ihm

erwartet, daß er tiefgründigere Kenntnisse über Luthers Vorstellungen

hatte, als er sie aus dem Vortrag des Herrn Fischer hatte gewinnen

können? Mußte er als Kirchgänger und als Sohn des Gemeindekirchen-

vorstands bestimmte Dinge wissen und womöglich bestimmte Ansichten zu

Luther und seinem Wirken vertreten? An Rübsams Kirche hatte Torben

gewiß nicht gedacht, als er sich zu Worte meldete, und nun sollte

er hier den wissenden und überzeugten Lutheraner abgeben? Es schien

ihm nun jedes Wort auf's Glatteis zu führen. Torben beschloß, dieses

Mal nicht glänzen zu wollen, sondern, wie sein Vater es gelegentlich

ausdrückte, auch ohne Wissen zu reden, vor allem aber, ohne etwas zu

sagen:

"Luther wandte sich gegen die Geschäftemacherei der Kirche und wollte

die Kirche wieder auf einen christlichen Weg bringen."

"Richtig, Torben, der Ablaßbrief des Papstes und dessen Vermarktung

durch Tetzel waren Anlaß für Luther gewesen, die 95 Thesen aufzu-

stellen und zu veröffentlichen. Wenn du dann noch sagst, Luther

habe die Kirche wieder auf einen christlichen Weg bringen wollen -

inwiefern war die Kirche denn vom christlichen Weg abgeraten, was

sollte sich ändern nach Luthers Meinung, war es nur die Geschäfte-

macherei der Kirche?"

"Nein, Luther war auch gegen den Zölibat." Das hatte Torben sogar

schon vor dieser Stunde gewußt, schließlich war Pfarrer Rübsam ja

verheiratet. Aber was noch? Was

war überhaupt christlich? Die linke Wange hinzuhalten, wenn man

bereits einen Schlag auf die rechte erhalten hatte? Das konnte

Luther wohl doch nicht gemeint haben? Zum Glücke schien Herr Fi-

scher sich aber mit Torbens Antwort endlich zufrieden zu geben:

"Richtig, Torben, und was meinst Du, Dennis?"

"Die damalige katholische Kirche bestimmte Moral und Glauben und

nutzte dies schamlos aus: Sie mordete, folterte, beutete das Volk

aus und verdiente an allen Arten krimineller Geschäfte, die es damals

gab. Sie hatte sich längst ein eigenes Christentum geschaffen, das

mit den ursprünglichen christlichen Imperativen Liebe, Güte und

Barmherzigkeit nichts mehr gemein hatte, sie beanspruchte göttliche

Unfehlbarkeit und das nach christlicher Auffassung göttliche Recht

zur Vergebung von Sünden für sich. Luther wandte sich ausschließlich

gegen die Absolutheitsansprüche der Kirche, wozu auch das Geschäft mit

dem Seelenheil zählte, und gegen Regularien und Dogmen, die ihm in

seiner Laufbahn als Priester zuwider waren, wie etwa den Zölibat,

die aus den Absolutheitsansprüchen der Kirche heraus überhaupt erst

geschaffen worden waren. Andere gravierende Mißstände, etwa die

Haltung der Kirche zu dem extremen sozialen Elend der

damaligen Zeit als Folge ungenierter Ausbeutung des weit größten

Teils des Volkes, waren Luther offenbar nicht als wichtig erschienen,

denn Themen wie Leibeigenschaft und Elend der Bauern wurden zwar

 

- 12 -

von Luthers Zeitgenossen, wie Thomas Müntzer, als christliche Themen

vehement behandelt, nicht aber von Luther, der es eindeutig ver-

mied, sich neben der römischen Kirche auch noch die höheren Stände

des Reiches zu Gegnern zu machen. Nur dadurch, daß er die frühkommu-

nistischen Elemente des neutestamentarischen Christentums völlig

außer Acht ließ, konnte Luther die Unterstützung deutscher Fürsten

erhalten. Die Reformation gründete daher von Beginn an auf einer

Kooperation zwischen Kirche und Staat, die mit dem Verrat an erheb-

lichen Teilen christlichen Gedankenguts von Luther erkauft wurde,

damit aber war sie in ihrer Substanz politischer, nicht christ-

licher Natur."

Herr Fischer war offenbar erstaunt, und auch Torben staunte. Diese

Worte, diese Wörter, diese Sätze - was mußte in diesem zwölfjährigen

Dennis stecken, der hier aus dem Stegreif so ausführte und for-

mulierte, daß es wie selbstverständlich richtig auch für den klingen

mochte, der es gar nicht verstanden hatte. Torben hätte es zwar nicht

vermocht, sich selbst so auszudrücken, aber er hatte verstanden,

was Dennis gesagt hatte. Dieser Luther sei kein zweiter Christus

gewesen, sondern habe nur mit dem aufgeräumt, was ihm persönlich

und einem Teil der deutschen Fürsten zuwider gewesen sei, und das

vor dem Hintergrund einer bis in die tiefsten Abgründe verkommenen

Kirche, die nichts besser gewesen sei als die Mafia in ihren schlimm-

sten Zeiten. Gab es Pfarrer Rübsam samt seiner Kirche womöglich nur,

weil einem Teil der deutschen Fürsten die römische Kirche zu mächtig

geworden war und sie einen Priester fanden,

der heiraten, sinnenfroh leben und die Umstände seines

Priesteramtes auch ansonsten gern selbst bestimmen wollte? Mußte er,

Torben, deshalb fast 500 Jahre später jeden Sonntag in Rübsams Kir-

che sitzen?

Herr Fischer mußte selbstverständlich verstanden haben, das war Torben

klar. In dessen Gesicht nahm er neben offensichtlicher Bewunderung

für den Vortrag auch wahr, daß Herr Fischer zu zweifeln schien, wie

er diesen Beitrag zu behandeln hatte, bis jener dann nachharkte:

"Du meinst, daß die Reformation politisch, nicht religiös bestimmt

gewesen sei, Dennis. Kannst Du das noch näher erläutern?"

"Christus lehrte, daß es nur eine wahre Autorität gebe, nämlich

Gott, und daß Gottes Gefallen nur durch Glauben und Taten zu errei-

chen sei. Die katholische Kirche hatte in ihrer Auslegung die

Rolle Gottes übernommen, daß eben sie praktisch die einzige

Autorität sei und man ihr glauben und durch Taten gefallen müsse,

was jedenfalls unchristlich war, so daß Luther sich aus christlicher

Sicht zurecht dagegen wandte. Er allerdings postulierte, daß man

Gottes Gnade nur durch den Glauben finde, nicht aber durch Taten.

Luther tat damit im Grunde nichts anderes, als den Ablaß, den

Tetzel gegen Geld ausstellte, allen Anhängern seiner Lehre und sich

selbst zum Geschenk zu machen; er verband in bequemster Weise die Mög-

lichkeit sündigen Lebens mit dem Angebot, in den Genuß der Seligkeit

vor Gott zu gelangen. Dies tat Luther aber sicher nicht im Hinblick auf

die Lehren des Neuen Testamentes, die sehr eindrücklich an soziale

Verantwortung und die Gewissenhaftigkeit des Handelns generell

appellieren, sondern wohl im Hinblick darauf, daß ein gesellschaftlich

und ihm selbst bequemer Weg des Christentums gegangen werde, der poli-

tisch maßgeblichen Kreisen genehm und damit durchsetzbar werde. Nach

christlicher Auffassung aber ist die Suche nach Gott nicht unter den

Aspekten von Bequemlichkeit, Beliebigkeit und Opportunismus zu

betreiben, sondern unter den Aspekten der Liebe, der Güte und der

 

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Barmherzigkeit, wenn es sein muß, unter Inkaufnahme jedes denkbaren

Leides und Verzichtes. Unter Würdigung dieser Tatsachen aber kann

die Reformation Luthers zumindest aus Christensicht nicht als christ-

lich verstanden werden. Weiterhin ist es jedenfalls Tatsache, daß

die römische Kirche Deutschland materiell ausbeutete, Machtpolitik

betrieb und auch den deutschen Fürsten abverlangte, nach ihren

Regeln zu leben. Sie mußte den deutschen Fürsten daher wie eine Be-

satzungsmacht im eigenen Lande erscheinen, deren Entmachtung gleichsam

Wohlstand und Macht der Fürsten verbessern mußte. Luther wiederum

hatte in Lebensgefahr die Hilfe der Jungfrau Maria erfleht und vor

Gott geschworen, daß er im Falle des Überstehens der Gefahr Priester

werden wolle. Die Aussicht, zwischen einem Leben im

Zölibat und dem Bruch eines Schwures vor Gottes, nach damaliger

Vorstellung dem Verlust der Seligkeit gleichkommend, wählen zu

müssen, hatte Luther in schwere Krisen gestürzt, denn Luther war,

eigenen Bekenntnissen folgend, durchaus allen Leibesfreuden sehr zu-

getan. Je mehr man diesen Zwiespalt Luthers zu Ende denkt, desto

klarer wird es, daß das reale Problem dieses Zwiespaltes der Abso-

lutheitsanspruch der Kirche und insbesondere das darauf aufbauende

strikte Gebot des Zölibats war. Luther konnte sich aus seiner Sicht

nur zwischen Hölle, freudlosem Leben und Reformation entscheiden.

Für die Reformation aber brauchte er die deutschen Fürsten, denen

er daher keine christliche Kritik und schon gar nicht christliche

Forderungen zumuten konnte. Damit war es nicht Luther, der den In-

halt der Reformation bestimmte, sondern die Fürsten, denen man

aufgrund ihres Umganges mit ihrer Macht lediglich politische,

nicht aber substantiell christliche Ziele unterstellen kann."

Torben sah Herrn Fischer an, der einerseits immer mehr zu staunen

schien, dem andererseits aber auch klar sein mußte, daß die

Evangelische Kirche Deutschlands unter Berufung auf die Lehre

Christi in seiner Geschichtsstunde soeben als Mißgeburt erklärt worden

war, von Beginn an untauglich zur Wahrung der Lehre Christi, von

Beginn an darauf ausgerichtet, den Kompromiß mit der Macht zur Ver-

breitung und Erhaltung ihrer selbst um jeden Preis zu suchen. Offen-

sichtlich wußte Herr Fischer nicht so recht, wie er mit diesen Vorträgen

umzugehen hatte, jedenfalls interessierte es ihn aber wohl, wie dieser

Dennis Schulze zu seinen Ansichten gelangt war: "Du vertrittst eine

sehr kritische Meinung zu Luther und zu seiner Reformation, Du zeigst

aber auch, daß Du Dich bereits intensiv mit diesen Dingen befaßt hast.

An dieser Schule bist Du neu, am Religionsunterricht nimmst Du nicht

teil, darf ich fragen, woher Du so gut Bescheid weißt und wie es

kommt, daß Du Dich so sehr damit befaßt hast?"

"Ich lese sehr viel und bin ein Anhänger Christi. Es ist meine Ent-

scheidung, daß ich nicht Mitglied einer Kirche bin und nicht am

Religionsunterricht teilnehme." Torben war baff. Dennis hatte nicht

nur zu erkennen gegeben, daß er um Klassen besser war als Torben

und der Rest seiner Jahrgangsstufe, so sehr, daß er in Anbetracht

seines Alters wohl als genial erscheinen mußte, sondern Dennis be-

stimmte selbst, ob er überhaupt Mitglied einer Kirche war oder nicht!

Und er war es nicht - obwohl oder gerade weil er Anhänger Christi war.

Welche Welten lagen doch zwischen diesem Dennis und ihm selbst, der

er in der Kirche war, ohne genau zu wissen, wofür jene gut war, und

der er sie jeden Sonntag bis auf das Äußerste gelangweilt erdulden

mußte. Nein, dies war kein Gegner für Torben, Dennis bildete eindeutig

eine Sonderklasse für sich allein.

Der Rest der Klasse war längst andächtig still geworden, Herr Fi-

scher war von Dennis Selbstbekenntnis sichtlich über sein bis dahin

 

- 14 -

bereits erworbenes Maß an Staunen hinausgetrieben worden und ließ

wieder vor der Klasse den Eindruck entstehen, daß er nicht wisse,

wie er mit einer Situation umzugehen habe. Wollte,

konnte oder durfte der ansonsten absolut souverän wirkende Herr

Fischer diesem zwölfjährigen Dennis nicht einfach sagen, daß er

richtig oder falsch geurteilt habe? Herr Fischer vermied jedenfalls

jede eindeutige Wertung:

"Ich finde es äußerst beeindruckend, wie Du Dich mit maßgeblichen

Hintergründen unserer abendländischen Kultur auseinandersetzt und

in welcher Weise du dies erklärst. Sofern Du die Kirche kritisierst,

möchte ich darauf verzichten, mich in die Belange des Religions-

unterrichtes einzumischen. Ich würde es aber sehr gern mit-

erleben, wenn Du Dich mit Frau Sprengmann darüber austauschen würdest,

die bei uns evangelische Religionslehre erteilt. Hattest Du nie Re-

ligionsunterricht?" Dennis errötete, als er nicht mehr ganz so

selbstbewußt wie zuvor wirkend antwortete, er habe bereits einmal

an einem Religionsunterricht teilgenommen.

Torben konnte es sich sehr gut vorstellen, daß jener Religions-

unterricht nicht das Wohlbefinden des zuständigen Lehrers geför-

dert haben konnte. Er war sich sicher, daß Dennis' Vorgeschichte

und Person Herrn Fischer nun auf das Höchste interessierten,

auch wenn Herr Fischer den Takt zeigte, nicht weiter zu bohren.

Dafür kam Herr Fischer auf den dem Torben unangenehmen Gedanken, ihn

als Sprecher der EKD in Anspruch zu nehmen:"Torben, ich bin hier zu

religiöser Zurückhaltung verpflichtet, möchtest Du vielleicht aus

lutherischer Sicht Stellung nehmen zu den Ausführungen des Dennis?"

Nun war Torben genau dort, wo er überhaupt nicht hingewollt hatte,

diese Frage des Herrn Fischer schien ihm geradezu infam zu sein -

geeignet, jede Wissenslücke, jeden zu Lasten des Glaubens eingegangenen

Kompromiß und jede Unzulänglichkeit seiner Logik in diesen

Dingen zu offenbaren. Zudem gedachte Torben im Traume nicht daran,

als Verteidiger der Kirche Rübsams aufzutreten, wo

sich doch die historische Ansicht des Dennis Schulze keineswegs in

erkennbarem Widerspruch zu Torbens aktueller Einschätzung dieser

Kirche befand. Nur, war es klug, an dieser Stelle zu sagen, daß Dennis

durchaus Recht haben könne, so wie die Kirche sich für ihn, Torben,

darstelle? Sollte er womöglich noch ergänzen, daß sein Vater und

Rübsam zwei lebendige Beispiele dafür seien, daß Staat und Kirche

gemeinsame Sache machten und daß das religiöse Drumherum nur reine

Schau zu sein scheine? Torben machte wieder vom Repertoire seines

Vaters Gebrauch, er redete wieder, ohne zu sagen: "Jeder Christ hat

seine eigene Auffassung, und nicht alle, die in einer Kirche sind, müs-

sen das selbe meinen."

"Nun gut", gab Herr Fischer sich endlich zufrieden, "wollen wir die-

sen kleinen religiösen Exkurs als beendet betrachten, und uns auf die

geschichtlich wichtigen Fakten stützen." Herr Fischer erläuterte die

Teilentmachtung der römischen Kirche in Deutschland und als

deren Folge die Entwicklung von Gebieten mit unterschiedlichen Konfes-

sionen, nach dem historischen Motto:"Cuius regio, eius religio" -

Wessen die Herrschaft, dessen Religion. Als er das historische Motto

samt Übersetzung an die Tafel schrieb, drehte er sich kurz zur

Klasse um, und es schien Torben, als werfe Herr Fischer Dennis ein

vielsagendes Lächeln zu.

Torben vermied es im weiteren Verlauf der Geschichtsstunde, sich

nochmals zu Worte zu melden. Selbst Nette Jakobs hatte er völlig

 

- 15 -

vergessen, so sehr war er durch die Beiträge des Dennis und seine

eigene unglückliche Rolle als unwissender lutherischer Kirchgänger

abgelenkt worden. Auch jetzt dachte er nicht an Nette, sondern ver-

suchte, die Meinung des Dennis zu ergründen. Hätte Luther geredet wie

Dennis, da war sich Torben sicher, so wäre ihm nicht die Unter-

stützung deutscher Fürsten, sondern die Liquidation durch die

römische Kirche oder durch die deutschen Fürsten gewiß gewesen.

Was war denn das Schicksal Christi gewesen? Gemordet von einer

Allianz der römischen Besatzer und der jüdischen Oberschicht -

wären römische Kirche und deutsche Oberschicht im 16. Jahrhundert

mit einem wie Christus etwa anders verfahren? Mit einem, der ihnen

jede einzelne ihrer vielen Sünden stets vor Augen gehalten hätte, der

sie der unentwegten Lüge und Gottlosigkeit beschuldigt hätte, wie

Jesus es mit den Pharisäern getan hatte? Mit einem, der sie vor

die Wahl gestellt hätte - Reichtum oder Gott? Die selben Leute,

die sich damals die Hände wundbeteten und vor jedem Kreuz auf die

Knie fielen - sie hätten Christus umgebracht, wäre er ihnen leben-

dig begegnet. Wie aber konnte man jemanden preisen und verehren,

den man lieber gemordet hätte, als ihn lebendig zu ertragen?

Torbens Gedanken stießen an die Grenzen real existierender Absurdi-

tät, die offensichtlich nicht nur in der Vergangenheit real war.

Die Worte seines Vaters vom Vortage zur Schwester fielen ihm ein:

"Hätte mir das jemand anders gesagt, den würde ich fertigmachen,

daß er hier in Albring für immer erledigt wäre." Was hätte Christus

wohl dem Kirchgänger Rainer Holten gesagt? Bestimmt mehr als genug,

um dessen Bekämpfungswut zu entfachen. War der Friede im Gesicht des

gekreuzigten Christus womöglich damit zu erklären, daß dieser Mann

zweifellos höchster Ideale seinen Frieden nur im Tode finden konnte,

mit Augen, die sich zur Welt hin geschlossen hatten?

Die folgende Mathestunde verlief ausnahmsweise ohne aktive Beteili-

gung Torbens, der sich immer tiefer in seinen Gedanken verfing und

es daher nur am Rande mitbekam, daß Dennis Schulze sich ebenfalls

nicht beteiligte - er schien in einem Buche zu lesen. Erst als es

zur großen Pause schellte, wurde Torben aus seinen Gedanken heraus-

gerissen.

Auf dem Schulhof wollte Torben heute allein bleiben. War ihm die

Kirche bisher nur als langweilig und nicht ernstzunehmend er-

schienen, so hatte die heutige Geschichtsstunde ihn eines Besseren

belehrt. Die Worte des Dennis sprachen zwar ebenso wie Torbens eigene

Anschauungen dafür, daß es in dieser Kirche nicht darum gehen konnte,

den Idealen Christi zum Durchbruche zu verhelfen, aber woran lag es

dann, daß seit der Gründung der römischen Kirche alle Mächtigen stets

den Schulterschluß mit der Kirche suchten, welche Macht hatte die

Kirche, die sie den weltlichen Mächtigen so unentbehrlich zu machen

schien? Weshalb hatten die Luther-freundlichen Fürsten nicht ein-

fach die katholische Kirche verjagt, weshalb mußten sie sofort eine

andere Kirche haben? Und, was Torben ganz besonders interessierte,

was war der Grund dafür, daß sein Vater den engen Schulterschluß

mit dieser Kirche pflegte? Wie gern hätte er mit Dennis über diese

Dinge gesprochen, doch fürchtete er, dieser kluge Junge könne

dann mehr erfahren, als es Torben letztlich lieb sein konnte. Auch

wenn sein Vater ein verlogenes Scheusal war - hatte Torben das Recht,

diesen Umstand in die Welt hinauszutragen? Was würde er letztlich

lostreten? Es schauderte ihm bei dem Gedanken, daß er Dinge herauf-

beschwören könnte, die ihm gar nicht abschätzbar schienen.

Während Torben langsam über den Schulhof schritt, sah er plötzlich Net-

 

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te, die sich mit zwei Freundinnen unterhielt, ihn aber offenbar noch

nicht bemerkt hatte. Torben war froh, von Nette noch nicht bemerkt

worden zu sein, denn so schwer es ihm bereits gefallen wäre, auf

sie allein zuzugehen, so war aus seiner Sicht nicht im Geringsten

daran zu denken, dies zu tun, während sie in Gesellschaft zweier

weiterer Mädchen war. Um jeder unerwünschten Situation sicher zu ent-

gehen, änderte Torben daher die Richtung und entfernte sich von

Nette. So nah sie ihm gewesen zu sein schien, als sie ihm in die Augen

sah und ihm das Taschentuch reichte, so weit weg schien sie ihm nun

zu sein, zumindest erst einmal unerreichbar.

Als Torben unentschlossen und unbefriedigt weiterging, sah er

plötzlich Dennis, der an der Schulhofmauer lehnte und in einem

Buche las. Torben hatte sich nie für Bücher interessiert, er hatte

stets nur das gelesen, was er lesen mußte. Aber heute war ihm klar-

geworden, daß es möglich war, aus Büchern Dinge zu erfahren, die

wichtig waren. Vielleicht war es gar möglich, in Büchern Antworten

auch auf solche Fragen zu finden, die Herr Fischer wegen seiner

religiösen Neutralität nicht beantwortete, auf Fragen, die man sei-

nem Vater, dem Pfarrer Rübsam und der Religionslehrerin Sprengmann

gar nicht zu stellen gewagt hätte? Torben näherte sich nun Dennis,

dem er es zutraute, ihm die Schlüssel zu ihm bisher verschlossenen

Türen der Erkenntnis liefern zu können.

"Hallo Dennis" , begann Torben,"Deine Ausführungen in der Geschichts-

stunde waren so gut, daß ich nichts hätte erwidern können. Herr

Fischer war offenbar ganz aus dem Häuschen, auch wenn er es nicht

sehr deutlich zeigte." "Ich habe es bemerkt", antwor-

tete Dennis knapp, während er seinen Blick weiterhin in das Buch

fallen ließ, das er gerade las. "Darf ich einmal sehen, was du da

liest?" Nun endlich hob Dennis seinen Blick zu Torben, und reichte

ihm das Buch. "Grundlagen der Analysis - das ist ja Mathe, Stoff der

Oberstufe!" "Ja, das ist Mathe, rein logisch, eindeutig wahr und

richtig, viel einfacher also als Religion." Dennis streckte seine

Hand aus, um das Buch zurückzunehmen. Ein besonders umgänglicher

Anhänger Christi scheine er ja nicht zu sein, dachte Torben, der

sich so einfach allerdings nicht abfertigen lassen wollte und des-

halb fortsetzte:"Wenn Du in Geschichte solche Reden hältst und

Dich in Mathe schon mit dem Stoff der Oberstufe befaßt, dann warst

Du in Deiner alten Klasse bestimmt der beste Schüler?"

Dennis hatte das Buch wieder an sich genommen und bereits

begonnen, sich darin zu vertiefen. Nun hob er seinen Blick

zu Torben und sagte:"Nein, das kann man jedenfalls nicht sagen."

Und wiederum versank Dennis Blick im Buche, so daß es Torben

langsam zu bunt wurde. Wer war dieser geistige Überflieger eigent-

lich, daß er so mit ihm umging? Und wie sollte es möglich gewesen sein,

daß einer wie er "jedenfalls nicht" Klassenbester gewesen sei? Was

sollte denn dann erst der Beste geleistet haben? Während Torben vor

Dennis stand wie ein Hund vor verschlossener Türe im Regen, traten

plötzlich Till Tollmann und Jens Walters hinzu, der gemeine Jens

Walters, dem er eine blutende Nase und den bewegenden Moment der Be-

gegnung mit Nette zu verdanken gehabt hatte. Anders als Jens war Till

Tollmann in der selben Klasse wie Torben, doch aus Torbens Sicht ein

ebenso unangenehmer Zeitgenosse wie Jens Walters.

Till protzte damit, daß sein Vater bei der Kriminalpolizei tätig sei,

und schien nach Torbens Ansicht zu meinen, daß er selbst aus diesem

Grunde etwas Besonderes sei und sich gar bei beliebigen Gelegenheiten

als Ordnungshüter aufspielen dürfe, was er allerdings nur dann tat,

 

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wenn er Dank dritter Hilfe oder eigener Kraft meinen konnte, sich

absolut sicher sein zu können, daß nichts schiefgehen werde.

Es konnte aus Torbens Sicht nichts Gutes bedeuten, daß Till und Jens

nun aufkreuzten.

"Hi Dennis, Du sagst, daß Du gar nicht in der Kirche seist? Weißt

Du noch nicht, daß hier in Albring alle in der Kirche sind, und

zwar in der evangelischen?" Till Tollmann hatte einen Ton angeschlagen,

der offensichtlich autoritär und drohend wirken sollte. Dennis sah

von seinem Buch auf, sah Till emotionslos an, und erwiderte trocken:

"Nicht alle in Albring sind Mitglieder in der evangelischen Kir-

che, ich jedenfalls nicht." Ungerührt senkte Dennis seinen Blick

wieder in das Buch. "Laß ihn gefälligst in Ruhe", mischte sich

Torben gegenüber Till ein, "es geht Dich überhaupt nichts an, ob

Dennis Mitglied in der Kirche ist oder nicht. Wenn Du jemanden be-

kehren willst, dann geh doch zu Fedaji und seinen Freunden. Die sind

auch nicht in der evangelischen Kirche, werden Dir auf Deine Fragen

aber sicherlich gern Antworten geben." Torben wußte, daß Till

die türkischen Schüler nicht mochte, es aber nicht wagte, sich mit

ihnen anzulegen. Immerhin gab es einige unter den türkischen Schülern,

die nichts besser waren als Jens Walters und er selbst.

"Was die Türken machen, geht mich nichts an. Es geht mich aber etwas

an, wenn Dennis erklärt, Luther habe die

evangelische Kirche nur gegründet, um als Priester ficken zu können,

und die ganze Kirche sei nichts als Lug und Trug. Ich wundere mich

darüber, daß Du als Sohn eines angesehenen Albringer Bürgers,

der ein hohes Ehrenamt in der Kirchengemeinde bekleidet, die Nähe

dieses Kirchbeschmutzers suchst." Bevor Torben etwas erwidern konnte,

klappte Dennis sein Buch zu, sah wieder auf und sagte zu Till:

"Vielleicht hat Torben ja eine eigene Meinung, darauf soll in diesem

Lande immerhin ein Recht bestehen, das sicherlich auch in Alb-

ring nicht außer Kraft gesetzt ist. Was wünschst Du also bitte, womit

darf ich Dir helfen?"

Dennis war im Tonfall ruhig und verbindlich gewesen, und sah Till

so freundlich an, daß man zumindest meinen mußte, er wolle Tills

Wünsche herzlich gern erfüllen, soweit ihm dies eben möglich schiene.

"Ich, ich, ich will..." - Till mußte eine andere Reaktion erwartet

haben, jedenfalls gelang es ihm nicht, aus dem Gestammel heraus zu

irgendeiner Erklärung dessen zu gelangen, was er eigentlich wollte.

"Was er will, ist doch ganz klar!", schaltete sich nun Jens Walters

ein. "Du, Dennis, kommst von sonstwoher und erklärst als erstes,

daß wir hier alle im Irrtum lebten und Du der Neunmalkluge seist, der

sich über unsere Blödheit nur wundern könne. Ich bin in der evange-

lischen Kirche, was meinst Du, Dennis, bin ich blöd?" Jens hatte

einen Schritt nach vorn gemacht und war Dennis bedrohlich nahe

gekommen. Dennis sah nun Jens Walters an, und ohne Angst zu

zeigen, antwortete er freundlich:"Ich kenne Dich zwar nicht, aber

weil ich Dir damit bestimmt Freude bereiten kann, nehme ich an, daß

Du sehr intelligent seiest. Und Du könntest mir nun Freude bereiten,

indem Du mich in Ruhe lesen ließest." Dennis öffnete sein Buch wieder

und schien das Lesen fortzusetzen.

Jens war anzumerken, daß er innerlich schäumte - dieser Dennis

ließ sich offenbar weder provozieren, noch gab er klaren Anlaß, ihm

eine 'reinzuhauen. "Was liest unser Wunderkind denn?" fragte Jens

gehässig und riß Dennis dabei das Buch aus der Hand. "Grundlagen

der Analysis - sieh mal an, unser Neunmalkluger ist auch noch ein

 

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Streber!" Dennis wirkte völlig entspannt, als er zu Jens aufsah

und erwiderte:

"Würdest Du bitte so freundlich sein, mir mein Buch zurückzugeben?"

"Würdest Du bitte so freundlich sein", äffte Jens nach, "Du scheinst

ja nicht nur neunmalklug und strebsam zu sein, sondern auch noch über

ein ganz besonders vornehmes Wesen zu verfügen. Auf einen wie Dich

warten wir hier in Albring schon seit Ewigkeiten. Hole Dir doch Dein

Buch!" Bei diesen Worten warf Jens das Buch über die Schulhofmauer.

Sein Arm war noch vom Wurfe ausgestreckt, als Dennis diesen blitz-

schnell am Handgelenk faßte, ein Ruck, und Jens Walters Arm war

hinter dessen Rücken so verdreht, daß Dennis Jens völlig im Griff

hatte und ihm bereits mit kleinstem Krafteinsatz starke Schmerzen

zufügen konnte. "Wenn Du nichts dagegen hast, dann werden wir mein

Buch nun gemeinsam holen", sagte Dennis, und schob Jens zum Ausgang

des Schulhofes vor sich her. Torben wußte nun, weshalb Dennis so

ruhig und frei von Angst geblieben sein konnte, und auch Till schien

dies zu begreifen, er machte jedenfalls keine Anstalten, Jens aus

seiner wenig angenehmen Lage zu befreien.

Mittlerweile hatte die Szene Aufmerksamkeit erregt, und während

Dennis samt Jens, der das Buch wieder in der Hand hielt, aus seiner

mißlichen Lage aber immer noch nicht befreit war, zurückkehrte,

kam die Pausenaufsicht in der Person der Religionslehrerin Spreng-

mann hinzu. Kaum hatte Jens Walters dies bemerkt, so setzte er

er den gequältesten und mitleidsheischendsten Gesichtsausdruck

auf, dessen er nach Torbens Ansicht fähig sein konnte, obwohl ein-

deutig erkennbar war, daß Jens zwar nach wie vor von Dennis geführt,

aber keinesfalls gequält wurde.

"Laß sofort den armen Jungen los", herrschte Frau Sprengmann

den Dennis an. Dennis ließ Jens los, verzichtete aber darauf,

Frau Sprengmann zu beachten, hielt seine Hand zum Empfang des Buches

bereit und sagte zu Jens:

"Würdest Du bitte so freundlich sein, mir mein Buch zurückzugeben?"

Jens gab ihm nun das Buch mit den Worten:"Hier hast du es!", wäh-

rend Frau Sprengmann nachsetzte:"Was war hier los?"

Till beeilte sich, als erster Stellung zu nehmen:"Dennis hatte

gesagt, daß Luther unsere Kirche nur gegründet habe, weil er als

Priester Sex treiben wollte, daß unsere Kirche

mit wahrem Christentum nichts zu tun habe und daß wir evangelischen

Christen in Albring alle dumm seien. Und dann hat er Jens angegriffen

und gequält."

"Till lügt", warf Torben ein, während es der Frau Sprengmann bereits

anzusehen war, daß es Till durchaus gelungen sein mußte, sie gegen

Dennis aufzubringen. Torben setzte fort:

"Till und Jens waren hierher gekommen, um einen Streit mit Dennis

vom Zaune zu reißen. Als dieser darauf nicht eingehen wollte,

riß Jens ihm sein Buch aus der Hand und warf es über die Mauer, worauf

Dennis den Jens zwang, gemeinsam mit ihm das Buch zu holen. Dennis

hat nach meiner Meinung in der kultiviertesten Form auf Jens Frechheit

reagiert, die möglich war, Frau Sprengmann. Gequält hat er Jens ganz

gewiß nicht." Erst bei diesen Worten schienen Jens Schmerzen wieder

aufzuleben - er quälte seine Gesichtsmuskulatur und hielt sich

den Arm, als ob dieser stark schmerzte.

 

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"Und was hat das Ganze mit Luther und der Kirche zu tun, Till?",

fragte Frau Sprengmann. Till:"Dennis hatte diese Sachen im Geschichts-

unterricht erzählt, und wir wollten dann wissen, ob er es wirk-

lich so meine." - "Im Geschichtsunterricht?" fragte Frau Sprengmann

ungläubig. - "Ja, bei Herrn Fischer." - "Im Geschichtsunterricht

bei Herrn Fischer ?" - Die Augen der Frau Sprengmann waren immer

größer geworden, und Torben meinte in ihnen lesen zu können, daß

sie dem Dennis alles und zudem dem Herrn Fischer wenigstens

fast alles zutraute.

Torben schaltete sich wieder ein: "Dennis hat niemanden beleidigt,

Frau Sprengmann.

Er hat allerdings die Meinung vertreten, die Reformation sei nicht

von christlichen Idealen getragen gewesen und Luther habe dabei

persönliche Interessen verfolgt, die mit dem Zölibat nicht verein-

bar gewesen seien."

Frau Sprengmann schien diese Auskunft Torbens nicht gerade zu beru-

higen, sie faßte erkennbar engagiert nach: "Und was hat Herr Fischer

dazu gesagt?" Offenbar sah Till wieder

eine Chance, die Eskalation zu Lasten des Dennis voranzutreiben:

"Herr Fischer fand die Worte des Dennis sehr beeindruckend, er schien

nahezu fasziniert gewesen zu sein." Das war zuviel für Frau Sprengmann,

die sich stets darum mühte, rechtzeitig für Oster- und Weihnachts-

schmuck in den Klassen zu sorgen, die nie den kleinsten Zweifel daran

aufkommen ließ, daß die Tür von der EKD ins Jenseits direkt in die

ewige Seeligkeit führen mußte, für die Christsein und Evangelischsein

ganz eindeutig eins waren. "Herr Fischer fand

das beeindruckend, war fasziniert, und hat sonst nicht Stellung genom-

men?" Ihre Stimme signalisierte, daß die in ihren Worten liegende Ruhe

das Ergebnis angestrengter Unterdrückung heftiger Gefühle sein mußte.

"Herr Fischer hat ausdrücklich gesagt, daß er sich nicht in die Be-

lange Ihres Unterrichtes einmischen wolle und aus diesem Grunde nichts

zu Dennis religiösen Ansichten sagen könne, Frau Sprengmann", stellte

Torben richtig, es wohlweislich unterschlagend, daß er selbst

aufgefordert worden war, zur Rechtfertigung Luthers und der Kirche

anzutreten.

Frau Sprengmann rang erkennbar um ihre Fassung, als sie sich schließ-

lich an Dennis wandte: "Dennis, so heißt Du ja wohl, Du sollst wissen,

daß hier selbstverständlich jeder seine eigene Meinung haben und auch

äußern darf. Erwartet wird allerdings, daß auch die Meinungen anderer

akzeptiert und insbesondere auch die religiösen Gefühle anderer nicht

verletzt werden. Ich werde die Sache noch mit Herrn Fischer abklären,

möchtest Du etwas sagen?" - "Ich kannte Jens und Till bis vor

wenigen Minuten nicht einmal namentlich, ich denke aber, Sie werden

die beiden kennen. Halten Sie es für möglich, daß man deren religiöse

Gefühle verletzen könne? Fragen Sie die beiden doch einmal, wie die

zehn Gebote heißen und was sie bedeuten. Dem frechen Jens paßte es im

Übrigen nicht einmal, daß ich hier in einem Mathebuch las,

soll ich möglicherweise auch seine mathematischen Gefühle verletzt

haben? Da Ihnen offenbar an Christlichkeit gelegen ist, bitte ich

Sie höflich, während Ihrer Pausenaufsichten auf solche evangelischen

Musterknaben wie Jens und Till zu achten, daß sie nicht grundlos Streit

mit Schülern beginnen, die ihren Frieden haben wollen und niemandem et-

was getan haben."

Frau Sprengmann war dem Siedepunkte nahe, während längst eine größere

Traube neugieriger Schüler und Schülerinnen die Szene umringte.

 

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"Ich kenne Jens und Till aus mehreren Jahren Religions-

unterricht. Ich kenne auch deren Eltern, die alteingessene Christen

sind. Wenn Du es in Frage stellst, ob man die religösen

Gefühle von Jens und Till verletzen könne, dann ist bereits das eine

unverschämte Beleidigung. Daß Du es dann noch wagst, mir mit Schnippig-

keiten zu kommen und mir zu sagen, wie ich die Pausenaufsicht führen

solle, ist eine

Frechheit, wie ich sie in meiner dreißigjährigen Laufbahn als

Lehrerin an dieser Schule noch nicht erlebt habe. Ich weiß es ganz ge-

nau, was ich zu tun habe, und brauche von niemandem Ratschläge, erst

recht nicht von Dir.

Ich werde wohl nicht umhin können, mich nicht nur mit Herrn

Fischer, sondern auch mit Deinem Klassenlehrer einmal intensiv zu unter-

halten. Dann werden wir sehen, ob es womöglich ein Fall für die

Schuldirektion wird. Und nun alle auseinander!" Frau Sprengmann hatte

den Siedepunkt scheinbar überschritten, jedenfalls hatte sie die

letzten Worte aus sich herausgeschrien.

Torben staunte. Es hatte für Frau Sprengmann offenbar keine Rolle

gespielt, daß Jens und Till die Streithähne gewesen waren, sie hatte

die Einzelheiten des Streites nicht einmal zu klären versucht. Und

das, obwohl Jens und Till einschlägig bekannt waren und zudem nach

Torbens Ansicht kein vernünftiger Mensch hätte meinen können, daß diese

beiden über verletzbare religiöse Gefühle verfügten. Es waren familiäre

und gesellschaftliche Gewohnheiten, die die kirchliche Begleitung

jedes normalen Albringers von der Taufe bis zur Beerdigung bestimmten,

auch der Religionsunterricht wurde selbstverständlich absolviert,

aber ohne zu wissen, warum letztendlich. Daß gerade Till und Jens

nicht inbrünstig gläubige Ausnahmechristen waren, das war der

Frau Sprengmann nach Torbens Meinung klargewesen - der Frau Sprengmann

schienen fiktive Verletzlichkeiten offenbar bedeutsamer, als gewalt-

same Tyranneien unter Schülern, die ihrer Aufsicht unterstanden.

Till und Jens mußten

ähnlich bewerten wie Torben, denn sie warfen Dennis noch ein zynisches

Grinsen zu. Als Dennis und Torben wieder allein standen und Frau

Sprengmann sich bereits einige Meter entfernt hatte, ging ein mit-

leidsvoller Ausdruck über Dennis Gesicht und er sagte, in Richtung der

Frau Sprengmann, aber nur für Torben hörbar:

"Heb dich hinweg, du nichtsnutziger Drache!" Dann sah er Torben an und

erklärte:"Das ist Teil des Römischen Rituals zur Austrei-

bung des Teufels. Vielleicht hilft es ja der armen Seele der Frau

Sprengmann, die nun so gern ein Inquisitionsgericht über Herrn Fischer

und mich abhalten würde. Man darf ihr deshalb nicht böse sein. Wenn man

den oder die Dämonen aus ihr hinaustreiben würde, wäre sie sicherlich

ein wunderbarer Mensch." Torben fragte ungläubig:"Du glaubst an den

Exorzismus?" Dennis:"Ja, absolut, aber sicherlich nicht so, wie er

landläufig verstanden wird. Das organisierte Christentum ist nicht

nur an fehlender Leidenschaft auf der Suche nach Gott gescheitert,

sondern auch daran, daß Metaphern zu simpel

gedeutet und die Bibel so betrachtet wurde, als sei sie von Gott

selbst geschrieben. Diese Fehler haben viele Menschen das Leben ge-

kostet und stiften auch heute noch großes Unheil. Gelegentlich füh-

ren sie zu merkwürdigen Debatten, wenn etwa versucht wird, die bibli-

sche Schöpfungsgeschichte vor den Hintergründen neuer Erkenntnisse

über die Entwicklung des Menschen zu vertreten. Man muß sich vor Augen

halten, daß diejenigen, für die die Bibel damals verfaßt wurde, nicht

überwiegend große Geister waren. Darauf hatten die Autoren Rücksicht

zu nehmen, indem sie eben keinen hohen Abstraktionsgrad in ihren

Darstellungen realisieren durften, sondern Bilder vermitteln mußten,

 

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die auch den einfachsten Menschen auf den richtigen Weg bringen

konnten. Dazu hätte es aber nicht gepaßt, den Teufel als ein

psycho-soziales Phänomen zu behandeln, das er nach meiner Überzeugung

vornehmlich ist. Insofern kann man nach meiner Meinung auch vom Teufel

oder gar von mehreren Teufeln besessen sein, die man grundsätzlich auch

austreiben kann."

"Und was ist Gott?", faßte Torben nach.

"Gott verstehe ich als größtmögliche Vollendung allen Seins, nach der

wir im Geiste Christi streben können. Wenn wir uns erfolgreich mühen,

dem Geiste Christi zu folgen, ersteht dieser Geist in uns auf und wir

werden Eins mit ihm. Nur in uns kann der Geist Christi unsterblich

sein und nur in ihm können wir unsterblich werden. Richten wir uns alle

in Vollendung auf den Geist Christi, so wird der Geist Christi

zu Fleisch, was nichts anderes bedeutet, als daß der Leib Christi wie-

deraufersteht. Der Tag der Rückkehr Christi auf Erden ist der Tag,

an dem wir eine Welt in seinem Geiste geschaffen haben, das Himmel-

reich auf Erden. Leider meint der größte Teil der organisierten

Christenheit, Christus werde eines Tages als Person zurückkehren,

die Strahlen der Sonne hinabrutschend, mit dem Himmelreich für uns im

Präsentkorb. Dieser absolute Irrsinn läßt die vermeintlichen Christen

nicht erkennen, daß sie es sind, die den endgültigen Kampf gegen

das Böse zu gewinnen haben. Naive Fehlinterpretationen können verhee-

rende Folgen nach sich ziehen, und selbst aus einer reinen und vollen-

deten Religion stumpfen Aberglauben werden lassen."

"Ist Deine Auslegung weniger willkürlich als die des Papstes?", fragte

Torben nun.

"Sie steht für mich nicht in erkennbarem Widerspruch zu wissenschaft-

lichen Erkenntnissen, zudem scheint sie mir logisch konsistent und

in wahrem Sinne christlich zu sein, weil sie die Hinwendung zum

Geiste Christi ohne Wenn und Aber fordert, anstatt ihn solange

zu verbiegen, bis er irgendwelchen fragwürdigen Geschmäckern gefällt

oder unlauteren Zwecken hinreichend dienlich scheint."

Torben mußte zugeben, er glaubte zwar, Dennis verstanden zu haben,

aber ganz sicher war er sich nicht. Jedenfalls gab es keinen Punkt

in Dennis Ausführung, den er sich ernsthaft zu kritisieren in der

Lage gesehen hätte. Torben beschloß, unauffällig letzte Zweifel

an seinem eigenen Verständnis zu beseitigen:

"Du meinst, Gott und der Geist Christi könnten nur in der Einbildung

existieren?"

Dennis antwortete:"Das meinte Nietzsche, der den Glauben als Pro-

jektion menschlicher Wünsche in den Himmel bezeichnete. Ich denke

aber, Nietzsche hatte die falschverstandene christliche Lehre vor

Augen, denn ein Geist, der zu Fleisch wird, ist wahrhaftig, nicht

Gegenstand reiner Einbildung. Gott ist kein Wesen, das sich unter bio-

logischen Aspekten einordnen läßt, dennoch ist es wirklich wahr für den,

der es wirklich wahrhaben will, es wird für ihn wahr, indem er selbst

es wahrwerden läßt. Wir leben in einem Zustand, der durch Wahrnehmung,

Erkenntnis und Handeln definiert werden kann. Wenn wir von negativer

Wahrnehmung, Erkenntnis und Handlung zu ihren positiven Gegensätzen

hin gelangen, so ist dies nicht mehr Fiktion, sondern Realität.

Gerade darin liegt der Unterschied zwischen dem wahren, aktiven

Christentum und dem Eia-Popeia der kirchlichen Lehren, die tatsächlich

nur Wünsche und Ängste projizieren.

 

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Reale Hinwendung zu Gott wird real erlebbar, deshalb ist Gott für den

real, der sich ihm zuwendet, und nicht existent für den, der ihn

leugnet oder nur scheinbar sucht. In extremen Situationen können

Menschen zu Kraft- und Verstandesleistungen fähig sein, die weit

über ihre normalen Möglichkeiten hinausgehen: Ein langes Leben kann in

Sekundenteilen im Geiste nacherlebt werden, eine 50 kg schwere

Frau einen LKW an einer Seite anheben, um ihr eingeklemmtes Kind

zu befreien; manche sterben mit einem entspannten Lächeln auf den

Lippen eines grausamen Foltertodes. Das sind Momente, in denen

der Mensch Eins ist mit Gott, wie Christus, als er seinen Geist in

Gottes Hände befahl. Die Begegnung mit Gott setzt Kräfte frei,

die uns ebenso unvorstellbar sind wie Gott, auch wenn sie physio-

logisch erklärbar sein mögen; die Suche nach Gott weist uns den Weg

über die Grenzen unseres normalen Verstehens und Seins hinaus,

erst weit jenseits dieser Grenzen können wir Gott begegnen, dort

ist er, nicht auf einer Wolke mit Engelein zu seinen Füßen."

Torben glaubte nun, endgültig verstanden zu haben, was Dennis meinte.

Der tiefe Frieden im Gesicht des gekreuzigten Christus mußte demnach

bedeuten, daß Christus bei Gott war, wie auch immer man sich diesen

Umstand vorstellen wollte, den man sich erst vorstellen konnte, wenn

man seine eigenen Grenzen weit überschritten hatte. Nein, das hätte

man weder einem jüdischen Fischer vor 2000 Jahren noch einem deut-

schen Bauern vor 500 Jahren erklären können, darin mußte Dennis

recht haben. Aber was hatte Dennis dann gegen das Bild vom ver-

menschlichten Gott, das doch auch dem Einfachsten nachvollziehbar

sein mußte? Torben harkte nach:"Du sagtest selbst, in der biblischen

Darstellung habe Rücksicht auch auf einfache Geister genommen wer-

den müssen. Weshalb ziehst du die einfachen Bilder der Bibel dann

in die Lächerlichkeit?"

Dennis:"Nicht die Bibel, sondern deren Auslegungen, die Gott in

Anlehnung an das Verständnis von weltlicher Autorität erklären.

Die Auslegungen der Bibel wurden elementar falsch dadurch, daß

die gesellschaftlichen Systeme absolut autoritär organisiert waren

und man sich den religiösen Himmel auch nicht anders vorstellen

wollte oder konnte. In autoritären Systemen aber kommt alles Wichtige

von oben, ändern kann der einfache Mann nichts, er kann nur hoffen

und beten. Den meisten schafft dies ein Gefühl der legitimierten

Unverantwortlichkeit und Bequemlichkeit, sie fühlen sich nur wohl,

wenn es eine Autorität über ihnen gibt, vor der sie auf den Knien

rutschen. Sie würden alles für Gott tun, wenn sie ihn auf einer

Wolke sitzen sähen und er ihnen Befehle erteilte. Solange dies

aber nicht passiert, kommen sie auch ohne Gott aus. Christus aber war

ein kühner Freigeist, der allen weltlichen und den sogenannten geist-

lichen Autoritäten ein Gegner war, der es bereits verstanden hatte, daß

in jeder Macht die Tendenz zu ihrem Mißbrauch liegt. Christus richtete

seinen Geist nicht auf die Konservierung monarchischer, aristokrati-

scher oder bürgerlicher Staatsstrukturen, wie die Kirchen es stets

taten, sondern war ein Revolutionär höchster Ethik, der gegen jede

Form mißbräuchlicher Macht stand und dessen Handeln nur durch die Suche

nach Gott bestimmt war:

Ein Mann, der vor den Schwachen, nicht vor den Mächtigen kniete, der

den Tempel Gottes zerstören und neu errichten wollte. Es ist der

Gipfel falscher Inanspruchnahme, daß die Kirchen sich auf Christus

beziehen, daß das Kreuz in bayerischen Klassenzimmern hängt, staatli-

cherseits verordnet. Es ist so irrsinnig, als würde man Karl Marx als

Leitfigur des Manchester-Kapitalismus in Anspruch nehmen. Christus kann

 

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von Staat und Kirchen nicht rechtmäßig beansprucht werden, er kann vor

den Hintergründen unserer Gesellschaft nicht einmal verstanden werden:

Seine Feinde lieben, statt sie zu hassen? Den Mächtigen ihre Sünden

um die Ohren hauen, statt vor ihnen zu kriechen und ihnen schön zu

tun? Sich vor Kranken in den Staub werfen, statt einen großen

Bogen um sie zu machen? Aus Überzeugung auf Reichtum verzichten und

für die Überzeugung früh und qualvoll sterben? Hört sich das nicht al-

les verrückt an? Und was, wenn einer permanent in solchem Geiste lebt,

all seine Gedanken und Kraft darin investiert, anstatt ein sogenanntes

ordentliches Mitglied der Gesellschaft sein zu wollen?

Muß ein solcher Mensch aus unserer gesellschaftlichen Sicht nicht

in eine psychiatrische Anstalt hineingehören, zu seinem eigenen

Schutze und zur Bewahrung der Gesellschaft vor ihm? Ist er nicht

von irrem Geiste beseelt, wenn man heutige Maßstäbe von gesunder

Normalität anlegt? Die Antwort kann nur ein klares 'Ja' sein.

Da aber der Geist Christi aus Sicht unserer Gesellschaft

verrückt ist, muß der ihm entgegengerichtete Geist des Antichristen

aus Sicht unserer Gesellschaft logischerweise vernünftig sein. Wir

leben daher im Zeitalter des Antichristen. Er treibt Jens und Till zu

gemeinen sadistischen Taten, er geifert aus der Frau Sprengmann

heraus, begegnet uns auf Schritt und Tritt und verbirgt sich hinter

einem projizierten Gott, der sich nicht Schöneres vorstellen zu

können scheint, als daß Kirchen und Staatsmachten gemeinsam genau

das machen, was ihnen paßt. In welchem Geisteswahn dies mündet,

wird zum Beispiel deutlich, wenn die katholische Kirche die Steuer-

ehrlichkeit quasi zum elften Gebot erhebt und Priester sich zur

Segnung von Waffen bereiterklären."

"Sag das hier bloß keinem anderen!" Torben schienen die Ausführungen

des Dennis durchaus plausibel zu sein; vor allem, daß der Anti-

christ in Albring allgegenwärtig war, konnte durchaus stimmen. Aber

ihn fröstelte bei dem Gedanken, was wohl wäre, wenn Dennis seine Thesen

an Rübsams Kirchentür anschlagen würde. Zudem war nach Torbens Ansicht

zu befürchten, daß Dennis Wertungen auch als Arroganz ausgelegt werden

konnten, die gerade hier in Albring, wo es einen selbständigen

Wert bildete, einheimisch zu sein, einem Zugezogenen ganz besonders

übel genommen werden konnte.

Torben fuhr fort:"Ich finde Deine Ausführungen und Schlüsse berech-

tigt und richtig. Ich glaube auch, daß der Geist Christi mit

diesen Kirchen nichts gemein habe, doch bitte ich Dich, es für Dich

zu behalten. Hier in Albring ist man in der Kirche, nimmt am Reli-

gionsunterricht teil und hinterfragt nicht. So mancher will es sehr

entschieden, daß gar nicht erst hinterfragt wird. Es kann zu

großen Problemen führen, jemandem, der in die Selbstlüge verliebt

ist, den Spiegel vorzuhalten." Torben hatte in den letzten zwei

Tagen hinzugelernt: Erst sein Vater, dann Frau Sprengmann - sobald

man an den Mauern falschen, aber dafür hohen Selbstverständnisses

kratzte, zündete man das Pulver des Hasses und der Rache.

"Ich war mir bereits sicher, daß ich Dir trauen kann und auch, daß

Du selbst kritisch zu diesen Dingen stehst, denn sonst wärest du

mir anders oder gar nicht begegnet. Ich weiß auch, daß Frau Spreng-

mann sich mir gegenüber noch sehr gezügelt hat, weil Du als

evangelischer Albringer Junge aus guter Familie klar für

mich gesprochen hast. Albring mag in einigen unangenehmen Dingen

stärkere Ausprägungen aufweisen als manch andernorts üblich, aber

 

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letztlich ist das Albring, das Du meinst, überall. Ich kenne es

jedenfalls schon, es geistert durch die Geschichtsbücher und bestimmt

unsere heutige Gesellschaft. Ich kann aber mit diesem Phänomen nicht

konfliktfrei umgehen, weil es in meinen Augen kraß dem Geiste Christi

widerspricht. Das war auch der Grund dafür, daß ich mit der Frau

Sprengmann deutlich umgegangen bin. Für Frau Sprengmann sind alle

Dinge, wie sie sind, sie lebt in nichthinterfragten Strukturen und

rennt mit verschlossenen Augen vor dem Geiste Christi davon. Sie

ist in einer Art von Dauertrance, die jede eigenständige Loslösung

zuverlässig ausschließt, sie spürt es aber instinktiv, wenn jemand in

einem anderen Geiste lebt, und versteht bereits das als Kriegser-

klärung. Ich denke, Christus hätte ihr auch ein paar klare

Worte gesagt, um zu versuchen, ihr Bewußtsein zu wecken, ihr die

in ihr wohnenden Dämonen vor die Augen zu führen und ihr zu sagen:

'Laß von ihnen!' Zudem war vorhersehbar, daß es Widerstand und Abnei-

gung gegen meine religösen Gefühle und Ansichten geben würde, die ich

hier in Albring leben und nicht beerdigen möchte. Sind meine An-

sichten denn unchristlich? Wenn sie nicht unchristlich, sondern

christlich sind, wie ich es ernsthaft meine, dann muß ich

in einer sich christlich nennenden Gesellschaft nicht nur das Recht

haben, mich hinsichtlich ihrer zu äußern und mich ihnen entsprechend

zu betätigen, sondern ich bin sogar beauftragt, anderen meinen Glauben

zu vermitteln. Meinst Du nicht, dafür müßte Frau Sprengmann

eigentlich auch Verständnis haben? Ich habe überhaupt nichts

dagegen, mit ihr, Herrn Fischer und unserem Klassenlehrer Schülken

die ganze Angelegenheit ausgiebig beim Direktor zu besprechen."

Dennis sah Torben dabei so warmherzig an, daß es fast schien, als

rechne er naiverweise tatsächlich mit dem Verständnis der Frau

Sprengmann.

Torben begann zu ahnen, weshalb dieser kluge Dennis "jedenfalls nicht"

Klassenbester gewesen war. So klar und wahr ihm die Worte des Dennis

schienen, so sicher schien es ihm, daß gerade diese Klarheit und Wahr-

heit der Worte geeignet war, ihm die zu Feinden zu machen, die lie-

ber redeten, ohne zu sagen, zumindest aber, ohne klar und wahr zu

sagen. Torben dachte wieder an seine Schwester Heike, die

auch in klaren und wahren Worten gesprochen hatte und niedergekämpft

wurde durch Worte, die nicht klar und wahr, sondern vage und dennoch

voll der häßlichsten Lüge waren.

Auch Christus hatte klar und wahr gesprochen und hatte dafür Lüge,

Intrige, Verrat und letztlich Mord geerntet, obwohl er nach

Dennis Ansicht zu Gott gefunden haben und damit die Grenzen des

Vorstellbaren überschritten haben mußte. Wie mächtig war der

Antichrist, wenn er jemanden, der bei Gott war, nicht nur ausschalten,

sondern anschließend über fast 2000 Jahre hinweg für seine Zwecke

mißbrauchen konnte?