Zuhause bei Torben Torben fuhr nachdenklich mit dem Rad von der Schule nach Hause. Nichts schien ihm mehr zu sein, wie es vor kurzem noch für ihn gewesen war; was er bis dahin noch für gesellschaftliche Marotten gehalten hatte, stand in seinen Gedanken jetzt als eine feste Burg des Bösen vor ihm. Hatte er bisher angenommen, sein Vater sei ein Scheusal besonderer Art, so fragte er sich nun, ob sein Vater nicht vielmehr ein typischer Vertreter eines durch und durch fauligen, auf nichts als Lug und Trug gebauten Systems sei, das sich nur dadurch rechtfertigen konnte, daß es irgendwie funktionierte und in der Lage war, sich gegen Moral und Vernunft stets zur Wehr zu setzen, egal, mit welchen Mitteln. Torben wohnte in einem sogenannten besseren Viertel am Rande Al- brings, in dem kleine Villen des höheren Bürgertums standen, das sich in der Verwaltungsstadt Albring, dessen weite Umgebung ländliche Strukturen hatte, vornehmlich aus Beamten, höheren Angestellten und Geschäftsleuten zusammensetzte. Wenngleich die Häuser unterschied- lichen Alters waren und unterschiedliche Baustile verkörperten, neben Ziegeldächern beispielsweise auch andere Konstruktionen ver- treten waren, so hatten alle Anwesen bei näherer Betrachtung doch Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Undenkbar wäre es gewesen, einem ungeputzten Fenster zu begegnen, undenkbar erst recht, einen Garten zu erspähen, dessen Rasen so weit gewachsen war, daß mittendrin etwa ein Löwenzahn hätte zur Blüte gelangen können. Selbst die Ritzen zwischen Steinplatten wur- den in der Regel so gepflegt, daß es darin keinem Samenkorn gelingen konnte, über das Stadium des ersten zarten Austriebes hinauszugelan- gen. Es war nicht das richtige Feld für betrachtenden Biologieunter- richt, denn es war nicht sauber, sondern steril, das Viertel mit den kleinen Villen in Albring, wo Torben wohnte. Dafür gehörte zu jedem Haus wenigstens eine Garage, und auch ein Wintergarten gehörte zu- mindest zum besseren Standard. Zudem schien es, als ob ein Teil der hausfraulichen Aufgaben in diesem Viertel darin bestehe, stets wachsam darauf zu achten, ob es nicht einem Nachbarn gelungen war, seinen Besitz durch irgendwelche Neuerungen optisch hervorzuheben, ob sich gar jemand ein neues Auto gekauft hatte oder ähnliches und sich damit einen Prestigevorteil verschafft hatte. Solch nachbarlichem Frevel mußte, sobald er ruchbar geworden, möglichst unmittelbar durch eigenes Auftrumpfen begegnet werden, wenn man weiterhin sicher sein wollte, wirklich ernst genommen zu werden. Es schien für die normale Anwohnerschaft kaum etwas Schlimmeres zu geben, als daß man über längere Zeit hin nicht auffiel, weil man nicht durch äußerlich demonstrierten Konsum und Wohlstand glänzte. Nur einige wenige entzogen sich dieser Bräuche, zu ihnen gehörte die Familie Holten, deren Familienvorstand Rainer stets zu sagen pflegte, einem Richter stehe äußerliche Bescheidenheit nicht schlecht, und bei seiner Stellung habe er es auch gar nicht nötig, mit konsumtiver Kraft nach außen zu glänzen. Torben hatte dies zwar nie verstanden, da sein Vater ansonsten ja nicht gerade für schwach entwickelte Eitelkeit stand, er hatte sich aber auch nie gefragt, welche ungenannten Gründe seinen Vater womöglich zu dieser Haltung veranlassen konnten. Nachdem Torben zuhause angekommen war und sein Fahrrad im Anbau abgestellt hatte, kam ihm bereits die Mutter entgegen. Sie wirkte
- 2 - sehr erschüttert und hatte Tränen in den Augen. "Sind Vater und Heike zuhause?" fragte Torben, der bereits eine Ahnung hatte, was sich ereignet haben konnte. - "Heike ist nach der Schule zu Oma Grethe gefahren, sie möchte nicht mehr mit Vater in einem Hause leben. Vater weiß noch nichts davon, er ist noch im Gericht." "Und was sagt Oma Grethe dazu?", fragte Torben. - "Du weißt doch, wie sie Vater gegenüber eingestellt ist. Heike hat ihr bereits er- zählt, was sich gestern wirklich zugetragen hatte; Oma und Opa sind bereit, Heike aufzunehmen." "Und wo liegt dann das Problem?", fragte Torben, der absolutes Verständnis für den Umzugswunsch der Schwester spürte, "Vater kann doch auch froh sein, wenn er es nicht mehr ertragen muß, daß Heike ihn nicht ertragen kann." "Das schon", entgegnete Torbens Mutter,"aber es wird ihm bestimmt nicht recht sein, was die Leute denken, wenn sein eigenes Kind vor ihm wegläuft. Schließlich ist er auch Vormundschaftsrichter in Albring, nimmt als Gemeindekirchenvorstand maßgeblichen Einfluß auf die Jugendarbeit der Gemeinde, und steht dem Verein 'Eltern helfen Eltern' nahe. Und er ist Rainer Holten." Torben war immer noch seinen Gedanken nachhängend und dadurch abgelenkt gewesen, wie ihm nun bewußt wurde. Natürlich, die Leute, das, was sie dachten, denken mußten, konnten oder könnten! Wie es Heike ging und was sie wollte, durfte da gar keine Rolle spielen, wichtig war es nur, daß die Leute meinten, sie sei die beneidenswerteste aller Töchter und in jeder Sekunde ihres Lebens voll des höchsten Glückes ob ihres liebevollen Vaters. "Vater wird sich dagegen bestimmt wehren", meinte Torben nun. "Und wie er sich wehren wird. Er wird Heike vom Jugendamt oder der Polizei abholen lassen, und sie dann womöglich auf ein Internat in Amerika oder sonstwohin schicken, denn das könnte er auf seine Art erklären." Torben erkannte, daß sein Vater zwar solches "auf seine Art" erklären können würde, nicht aber, daß Heike nur wenige Kilometer von der elterlichen Wohnung entfernt wohnen wolle. So sehr Torben die besonderen Erklärungskünste seines Vaters verabscheute, so sehr hätte er es nun gewünscht, daß sie zur Erklärung dieses einen ihm nicht erklärbar scheinenden Umstandes auch noch ausgereicht hätten. Es schien ihm völlig absurd, daß gerade Heike nach den Er- fahrungen des gestrigen Sonntags nun plötzlich zum Opfer mangelnden Vermögens des Vaters zu werden drohte, einen beschämenden Sachverhalt durch inbrünstige Lüge so zu verbrämen, daß die Sache nach Außen akzep- tabel schien. Er setzte nach:"Hast Du Heike und Oma nicht erklären können, wohin das Ganze führen werde?" "Natürlich habe ich das versucht, aber Heike meint, wenn sie mit Gewalt geholt werden sollte, würde sie die ganze Straße zusammen- schreien." Heike war an dem Punkt angelangt, an dem sie es wirklich darauf ankommen lassen wollte. So ungern wie Torben nun in ihrer Haut gesteckt hätte, so wenig Aussichten er ihr trotz ihrer offensicht- lichen Entschlossenheit auch gab, ihren Willen gegen die Befind- lichkeiten des Vaters durchzusetzen, so war doch etwas in ihm, was großen Respekt vor der Haltung der Schwester forderte: Wenn
- 3 - sie schon mit Gewalt geholt werden sollte, so wollte sie ihrem Vater wenigstens ein Szenario bereiten, an dem er hart zu beißen haben sollte. Torben hakte nach:"Meinst Du, daß sie Vater mit die- ser Drohung von irgendetwas abhalten könne?" "Bestimmt nicht. Er wird jedenfalls die Mittel haben, um Heike zurückzuholen, ohne daß es zu lauten Geräuschen in der Öffentlichkeit kommt. Und dann wird er sich Heike vornehmen." Torbens Mutter heulte nun so sehr, daß Torben sie stützen zu müssen meinte und sie in den Arm nahm. Was war hier zu tun? Schien es in Anbetracht der Machtverhältnisse nicht das Beste zu sein, Heike irgendwie zurück in die elterliche Wohnung zu bekommen, bevor der Vater die ihm verfügbaren Mittel zum Einsatz gebracht hatte? War es nicht zu befürchten, daß dem Vater nach kurzer, aber heftiger Eskalation wirklich nichts anderes mehr übrig scheinen mochte, als Heike so weit es eben ging aus Albring zu entfernen? Wie sehr wünschte Torben es nun, Gott zu begegnen und derart über seine Möglichkeiten hinaus- zuwachsen, daß ihm eine Lösung des Problems gelingen könnte. Torben war kaum mit seiner Mutter in die Wohnung eingetreten, da erschien zu allem Unglück bereits der Vater. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß ihm Unangenehmes widerfahren sein mußte, was Torben situativ nicht gerade als günstig erschien. "Tag zusammen. Wo ist denn meine liebe Tochter, noch in der Schule?" Der Vater hatte den Satz gesprochen, bevor er sich ein Bild machen konnte, wer sich aktuell in der Wohnung befand. Offenbar mußte er wohl ein besonderes Interesse an Heike haben, was nach Torbens Ansicht absolut unpassend war. Torben stellte sich vor, daß sein Vater im gerichtlichen Arbeitszimmer sitzend über Heikes gestrige Worte nach- gedacht haben mochte, möglicherweise stundenlang innerlich brodelnd. Rainer Holten hatte die Sache gestern noch nicht zu Ende gebracht, wie es Torben schien. "Sie ist noch nicht von der Schule zurück", sagte Torben, der es spürte, daß seine Mutter sich weder traute, die Wahrheit noch irgendeine Unwahrheit zu sagen. Erst jetzt sah Rainer Holten, in welchem Zustand seine Frau sich befand; mehr zufällig nahm er es zur Kenntnis, denn es war keineswegs seine Gewohnheit, sich bei jeder Rückkehr nach Hause in irgendeiner Form nach seiner Frau umzuschauen. "Was ist denn mit Dir los?", fragte er kalt, "sollten Dir Deine Tränensäcke noch nicht häßlich genug sein, daß Du Dir solche Mühe gibst, Dein Gesicht noch mehr zu verunstalten?" Torbens Mutter rannte heulend ins Schlafzimmer, ihr war ebenso klar wie Torben, daß Rainer Holten in gräßlicher Stimmung sein mußte - grundloses Demütigen seiner Frau war stets das letzte Ventil, das er zur Befreiung von eigenem Mißmut öffnete. Wie gern hätte Torben nun gesagt:"Vater, Du bist ein Schwein!", doch hatte er Angst davor, hielt es gar für möglich, in diesem Falle gewaltsame Rache zu spüren zu bekommen. Torben sagte lieber nichts und ging auf sein Zimmer. Er spürte den von der Schule mitgebrachten Hunger nicht mehr, fühlte nur kalten Haß auf den Vater und Sorge um Schwester und Mutter, dazu war er sich sicher, daß er ihnen nicht helfen konnte. Er hörte den Vater toben und die Mutter weinen und schluchzen, konnte aber nicht verstehen, was Gegenstand der wogenden Auseinandersetzung war. Erst mehr als eine viertel Stunde später wurde es ruhig, so daß Torben es wagte, sein Zimmer zu verlassen und in der Wohnung nachzusehen. Seine Mutter saß mit geröteten Augen in der Küche und schien kaum an- sprechbar. Torben trat zu ihr, um sie tröstend in den Arm zu nehmen,
- 4 - worauf seine Mutter ihn ansah und sagte:"Dein Vater ist das größte Schwein in Albring." So sehr es Torben auch interessierte, was sich außerhalb seiner Kenntnisnahme zuletzt ereignet hatte, so war er doch derart erschüttert, daß er keine Worte fand. Obwohl es Heike und ihm längst klargewesen war, daß ihre Mutter genau dies von ihrem Manne denken mußte, so war doch nie auch nur ein Wort über ihre Lippen gedrungen, mit dem sie das bestätigt hätte. Was mochte sich ereignet haben, wenn sie diese Zurückhaltung nun so offen aufgab? Torben hätte es gern gewußt, doch wollte er nicht in den Wunden seiner Mutter rühren. Anstatt zu fragen, nahm er sie noch fester in den Arm und schwieg. Was Torben aber verstan- den hatte, war, daß sein Vater außer Hauses sein mußte. Es dauerte nicht einmal eine halbe Stunde, und Torbens Vater kam zurück - mit Heike, deren Verfassung erkennbar nicht besser war als die ihrer Mutter. "Was macht das Mittagsessen, Hilde?", fragte Torbens Vater. "Wir haben alle Hunger und wollen endlich gemeinsam essen, wie es sich für eine Familie gehört." Die Worte des Rainer Holten waren im kühlen Befehlston gesprochen, so daß sie trotz ihrer wörtlichen Harmlosigkeit bedrohlich klangen. Seine geduldige Hilde tat ihr Bestes, um den Tisch zu decken und das längst warmgestellte Mittagsessen zu servieren. Es gab Grünkohl mit Bratwürstchen, eines der vielen Gerichte, die deutsch sind und vor allem den Vorteil haben, über Stunden für das Servieren bereit gehalten werden zu können. Letzteres aber war wichtig, da abgesehen von Sonn- und Feiertagen ein gemeinsamer Mittagstisch normalerweise nicht stattfinden konnte, worüber zumindest außer Rainer Holten niemand traurig war. Torben war sich allerdings sicher, daß seinem Vater der Mittagstisch besonders wichtig war, um sich vor seiner Familie zu brüsten, Familienmitglieder auszufragen, zu demütigen oder was auch immer. Er wollte ungern einem einzelnen Familienmitglied seine Macht demonstrieren, ohne daß die anderen dies auch mitbekamen, wie Torben empfand. Nicht sicher war Torben sich, ob sich der Mittagstisch nach seines Vaters Art nahezu zwangsläufig so eingespielt hatte, oder ob sein Vater jenen von Beginn an mit Kalkül so inszeniert hatte. Soweit Torben zurückdenken konnte, war es jeden- falls so gewesen, wie es nun war. Nachdem Familie Holten sich an der Familientafel eingefunden hatte und Hilde serviert und bereits selbst Platz genommen hatte, begann Rainer Holten unverzüglich mit seiner Art des Mittagsmahles. Selbstverständlich war es, daß Rainer Holten als unbestrittenes Familienoberhaupt zuerst zugriff, gelegentlich auch meinte, jemandem etwas auf den Teller legen zu müssen, worum jener gar nicht gebeten hatte. Torben wußte, daß sein Vater sich durchaus kultiviert beneh- men konnte, wenn es nach Außen hin sein sollte, daß Rainer Holten im engen Kreise seines Rudels aber schematisch ähnliche Verhaltens- muster an den Tag legte, wie Torben sie bereits in einem Film über ein Schimpansenrudel gesehen hatte. Diese Ähnlichkeit war Torben bereits früher aufgefallen, aber er dachte nun erstmals darüber nach, ob der Antichrist dann auch in einem Schimpansen stecken könne und ob ein Schimpanse womöglich auch zu Gott gelangen könne. Waren wir Menschen womöglich zu Gott gelangte Schimpansen, die ihre Grenzen überschritten hatten? Nein, sein Vater, da war Torben sich sicher, war kein zu Gott gelangter Schimpanse, sondern ein Schwein. Ganz dem Bilde seines Sohnes entsprechend bediente sich Rainer Holten nicht nur zuerst, sondern nahm sich ein Bratwürstchen
- 5 - mit der Hand vom Teller, trotz der bereitliegenden Zange. Kaum hatte er das Würstchen auf seinem Teller untergebracht, nahm er ein weiteres Würstchen mit der Hand und legte es Heike auf den Teller, mit den Worten:"Du warst in den letzten Tagen sehr darum bemüht, eine Extrawurst zu bekommen, liebe Tochter. Ich möchte Dir diese persönlich reichen, die anderen müssen sich selbst bedienen." "Ich möchte Deine Extrawurst nicht, Vater." Mit diesen Worten nahm Heike die ihr zugereichte Wurst mit der Zange und legte sie dem Rainer Holten auf den Teller. Rainer Holten wurde rot, in seinen Worten klang kaum unterdrückte Wut: "Es gibt für Dich genau zwei Möglichkeiten:Entweder, Du ißt hier in Albring meine Wurst und benimmst Dich so, wie es sich für eine anständige Tochter gehört, oder ich lasse Dich auskurieren. Ich habe heute mit Frau Dr. Schlaucher telefoniert, der Psychiaterin an unserem Krankenhaus. Ihr habe ich von Deinen Symptomen erzählt. Da ich Vormundschafts- richter bin, möchte sie die Sache solange mir überlassen, wie ich meine, eine Verschlimmerung Deines Zustandes verhindern zu können. Es gibt gutgeführte Häuser, die weit genug von Albring entfernt sind, so daß Du Dich gut von mir erholen könntest. Du könntest Dich dort in Grenzen frei bewegen und brauchtest meine Bratwurst nicht zu essen." "Du willst mich wegen angeblicher Symptome in die Psychiatrie einweisen lassen? Selbst wenn ich irr wäre, würdest Du mich eher umbringen, als über Deiner Familie die vermeintliche Schande aufkommen zu lassen, in ihr bestünden Neigungen zum Irrsinn." Heike schien sich nach Torbens Auffassung zurecht sicher zu sein, während die Mutter ein Gesicht machte, dem nicht mehr anzusehen war, welche Gedanken dahinterstanden. Rainer Holten setzte nach:"Du hast mich falsch verstanden, liebe Tochter. Ich beabsichtige nicht, Deinen Zustand in die Welt hinaus- zuposaunen. Nur sehr wenige müßten wissen, wie schlimm es um Dich bestellt ist. Es würde nicht mit einem Tatü-Tata zugehen, das brauchte man Dir wirklich nicht zuzumuten. Du sollst wissen, daß es psychische Probleme in jeder Familie geben kann und daß andere schon diskret mit diesen Dingen umgegangen sind; und gerade mir ist hier in Albring kaum eine Grenze gesetzt, wenn ich diskrete Hilfe benötige." Heike schien ins Zweifeln zu geraten; sie wußte, daß ihr Vater bluffen konnte, aber auch, daß ihm zumindest fast alles zuzutrauen war. Jedenfalls aber sah sie wohl ein, daß ihrem Vater wirklich kaum Grenzen gesetzt sein mochten, wenn er in Albring diskrete Hilfe benötigte. Torbens Vater fuhr fort:"Du glaubst gar nicht, wohin Du unsere ganze Familie bringen kannst, wenn Du meine richterliche Tätigkeit in den Dreck ziehst und hier vor allen Leuten in Albring demonstrie- ren zu müssen meinst, daß Du es bei mir nicht mehr aushalten könnest. Ich darf es nicht dulden, daß Du Amok läufst und alles kaputt- machst, was ich hier mühsam aufgebaut habe. Du solltest auch darüber nachdenken, daß es nicht nur mir nicht gefällt, wenn Du mich hier zu demontieren suchst. In Albring funktioniert vieles so gut, weil die Leute Vertrauen zu ihrem Staat und ihrer Kirche haben, wobei ich in beiden Fällen nur ein Rädchen bin. Wenn Du irgendwo den Hebel setzt, um einen Teil auszuhebeln, dann greifst Du das Ganze an
- 6 - und hast es dann mit dem Ganzen zu tun, was ich ab einem gewissen Punkt selbst nicht mehr ändern könnte. Was meinst Du denn, was passierte, wenn Du vor der Kirche herum- schriest, ich sei ein Idiot und würde mich von Albringer Anwälten hinsichtlich meines Richteramtes in bedenklicher Weise ausnutzen lassen? Es gibt nichts, womit Du solche Behauptungen auch nur im Entferntesten belegen könntest, stattdessen wären alle wich- tigen Leute in Albring bereit, Ehrenerklärungen für mich abzugeben und gleichzeitig ihre Verwunderung und ihr Bedauern dafür auszuspre- chen, daß Du übergeschnappt sein müssest. 'Der arme Richter Holten und seine Familie', würden sie sagen,'können wirklich nichts dafür, daß die Tochter nun den Verstand verloren hat.' Du hältst Dich mit Deinen 14 Jahren für neunmalklug, in Wahrheit aber weißt Du noch nichts." Torben stellte fest, daß sein Vater den Stil völlig geändert hatte, denn zum ersten Male gab er sich wirklich Mühe, der Heike nicht nur etwas vorzuschreiben, sondern ihr etwas zu erklären, wobei er gar den Begriff der Wahrheit einbrachte, von der er sonst doch so völlig losgelöst zu sprechen pflegte. Und es schien dem Torben auch durchaus nicht als abwegig, daß der Vater wirklich die Wahrheit sprach. Wie denn sonst würden Pfarrer Rübsam, Herr Fidelius und Frau Sprengmann beispielsweise reagieren, wenn sie nicht die Steine unter ihren eigenen Füßen ins Wackeln bringen wollten? Torben dachte nach, ob ihm Gegen- beispiele einfielen, erschrocken registrierte er, daß ihm niemand einfiel, der sich im Falle eines Falles in wahrem Sinne auf Heikes Seite stellen mochte. Heike war offenbar zu ähnlichen Wertungen gelangt, denn sie war ganz blaß geworden, und ihr Gesicht hatte alle Kraft und jeden Hinweis auf eine engagierte Haltung verloren. "Je mehr Du es darauf ankommen ließest", fuhr Rainer Holten fort, "desto mehr würdest Du Dir in Dein eigenes Fleisch schneiden. Wenn Du dann noch körperlichen Widerstand und Geschrei bieten würdest, erhieltest Du eine Beruhigungsspritze und würdest einen medizinischen Befund begründen. Du würdest eine Eigendynamik in Gang setzen, die Du nicht mehr kontrollieren könntest, vielleicht nicht einmal mehr ich. Also, liebe Tochter, hier ist die Wurst, ich meine es ernst!" Bei diesen Worten legte Rainer Holten die Wurst wiederum mit den Fingern auf Heikes Teller. "Vater, warum reicht es Dir nicht, wenn Heike zukünftig den Mund hält, weshalb muß sie unbedingt diese Wurst essen?", fragte Torben, dem das Verlangen des Vaters als abartig erschien. Rainer Holten sah seinen Sohn nur kurz mit einem Blicke an, der eine unwirsche Aufforderung zum Schweigen enthielt, und richtete sich wieder an Heike:"Ich muß mir sicher sein, daß Du den Ernst der Lage verstanden hast. Die Dinge hier laufen so, wie ich es will, und es wird keine weiteren Erklärungen mehr geben. Es geht nicht um ein Bratwürstchen, sondern im sprichwörtlichen Sinne um die Wurst. So, wie das Brot beim Abendmahl den Leib Christi darstellt, so stellt diese Bratwurst das Einverständnis mit den hier geltenden Regeln dar, den Geist, der in diesem Hause herrscht." Heike sah angewidert auf die Wurst. Es war ihr anzusehen, daß es die Grenzen ihrer Selbstüberwindung überschreiten mußte, auch nur einen Bissen von der Wurst abzubeißen, die nach Rainer Holtens Worten für den Geist des Hauses stand, also für Rainer Holten, und
- 7 - die dieser zudem bereits zweimal angefaßt hatte. "Willst Du wirklich lieber in eine Krankenanstalt, als daß Du in die Wurst beißt?" Rainer Holten schien ruhig, aber völlig entschlossen. "Du darfst Dich bei Deiner Mutter dafür bedanken, daß ich Dir noch ein drittes Angebot mache:Du gehst freien Willens in ein Internat, wo Du Deine hohe Moral beweisen kannst; in dem Du nicht nur die Abitursprüfung absolvieren, sondern neben der Schule Hilfstätig- keiten an einer Klinik verrichten kannst, so daß Du für ein Medizin- studium später bestens gerüstet wärest. Du würdest sofort wechseln und dies damit erklären, daß Dir klar geworden sei, daß Du unbedingt Menschen helfen wollest. Du könntest uns in den Ferien besuchen oder mit uns verreisen, wir würden weiterhin eine liebevolle Fami- liengemeinschaft pflegen." Heike schien nicht mehr auf die Wurst, sondern durch diese hindurch- zublicken, sie zeigte keine Regung. "Ich sage es zum letzten Male: Wenn Du Dich jetzt nicht entscheidest, fahren wir noch heute in die Klinik und Du bist ab morgen von der Schule beurlaubt und binnen 24 Stunden in einer Anstalt. Wie lautet Deine Antwort?", richtete sich Rainer Holten unzweifelhaft ultimativ an seine Tochter. Torben wußte, daß Heike schon wegen ihrer vielen Freundschaften und Gewohnheiten nicht in ein Internat wollte, in eine Anstalt konnte sie keinesfalls wollen, und der Biß in die Wurst mußte sie ein enormes Maß an Überwindung von Ekel kosten. Lebenslänglich, Galgen oder Fallbeil als Angebote eines gnädigen Richters, dachte sich Torben. Andererseits aber fragte er sich auch, was dem Vater sonst noch aus dessen Sicht übrig geblieben sein konnte, denn es war unbestreitbar, daß Heike ihn verabscheute und in den Kernen seiner Existenz bloßgestellt hatte, wenn auch bisher nur im Familien- kreis. Selbst wenn der Vater ein Scheusal war, hätte er nun wirklich gnädiger handeln können, aus seiner Sicht? Heike nahm die Wurst an einem Ende mit der Gabel und begann, sie zu essen. Sie aß die Wurst nicht so, wie man normalerweise ißt, sondern es war erkennbar, daß jede einzelne Kaubewegung das Ergebnis einer eigenen Anstrengung war, nicht im flüssigen Laufe des normalen Kauens schwingend. Zudem war ihr Gesicht zumeist teilnahmlos, wurde hin und wieder aber deutlich von Ekel und dessen verkrampfter Überwin- dung gezeichnet, und das Schlucken war erkennbar durch ein gelegent- liches Würgen ersetzt. Es war eindeutig, daß ihre Ruhe aufgesetzt war und in ihrem Innern heftigste Stürme toben mußten. Rainer Holten zeigte erste Anzeichen von Befriedigung im Gesicht. "Es ist schön, daß Du vernünftig bist. Du glaubst es kaum, wie froh auch Deine Mutter darüber ist und wie froh sie sein wird, wenn wir diese unglückliche Geschichte endgültig vergessen können. Auch an sie solltest Du denken." Es dauerte nach Torbens Eindrücken etwa fünf Minuten, dann war die Wurst aufgegessen. Weder Torben noch die Mutter hatten es gewagt, sich bis dahin auch nur zu regen, Rainer Holten hatte Heike unent- wegt angesehen. Heike hatte stets auf ihren Teller gesehen, sie sah auch jetzt nicht auf. "Vater, ich muß in einer halben Stunde im Konfirmandenunterricht sein, darf ich mich dafür fertigmachen?" fragte sie ohne jeden emotionalen Hinweis in ihren Worten und Zügen. "Selbstverständlich, mein Kind, den Konfirmandenunterricht darf man doch nicht verpassen."
- 8 - Kaum, daß Heike sich vom Tische entfernt hatte, setzte Rainer Holten seine Sonntags-Gönnermiene auf und sagte:"Warum möchte niemand von Euch essen? Greift doch zu!" Torben und dessen Mutter waren zwar nicht mehr geneigt, zu essen, aber sie wollten den scheinbaren Frieden nicht stören und waren im Grunde beide froh, daß Heike die Wurst gegessen hatte, also aßen auch sie ihre Würste. freundschaft mit Dennis Nach den Erlebnissen der letzten Tage war Torben froh über jeden Moment, den er außerhalb der physischen Nähe seines Vaters ver- bringen konnte. Durch außerhäuslichen Sport und Verabredungen mit Schulfreunden tat er aus seiner Sicht das Beste, um insofern möglichst oft froh zu sein. Leid tat ihm vor allem Heike. Die Mutter hatte es Torben erzählt, daß Heike sofort nach dem Verlassen der Tafel die Toilette aufgesucht und die Wurst vollständig erbrochen habe. Seitdem hatte Heike auffällig wenig gegessen, und häufig im direkten Anschluß die Toilette aufgesucht; es war bereits erkennbar geworden, daß sie abmagerte. Die Mutter sorgte sich bereits und wollte mit der Tochter zum Arzt, Torbens Vater aber meinte, sie müsse es halt noch lernen, sich zusam- menzureißen, vor vollem Kühlschranke werde sie sicherlich nicht ver- hungern. Torben war durchaus anderer Meinung als sein Vater, er suchte seine Schwester damit zu trösten, daß die Zeit bis zu ihrer Volljährigkeit endlich sei, daß sie dem Vater ja weitgehend aus dem Wege gehen könne und so weiter, doch schien es ihm, als bekomme er keinen rechten Zugang zur Schwester. Er ahnte, daß ihm die Rolle als neutraler Zuschauer übelgenommen worden war, denn Heike hatte schließlich eindeutig für alle ge- kämpft; die allgemeine Sympathie hatte sie ja auch auf ihrer Seite gehabt, nicht aber den geringsten Hinweis auf tatsächliche Solidari- tät. In der Schule war Torben jedenfalls lieber als zuhause, er genoß es, mit Dennis zu reden, und hatte Nette bereits wieder vergessen. Der Vorfall auf dem Schulhof hatte zu nichts mehr geführt, außer, daß Herr Fischer zur nächsten Geschichtsstunde besonders gut gelaunt erschienen war und gemeint hatte, die Diskussion um Luther und die Kirche habe beinahe ein Inquisitionsgericht auf den Plan gerufen, er habe aber verdeutlichen können, daß solches nicht mehr zeitgemäß sei. Dann hatte er Till Tollmann noch darum gebeten, die Verletzung seiner religiösen Gefühle zu erläutern, damit Dennis ihn christlich um Verzeihung bitten könne, worauf Till puterrot geworden war und gestammelt hatte:"Ich, ich, ich..." Herr Fischer hatte dann noch gesagt, daß 'die gute Frau Sprengmann' auf seine abschließende Frage, was sie eigentlich wolle, genauso geantwortet habe wie Till nun zu- letzt und daß man daraus wohl schließen könne, daß Till ein aufmerk- samer Religionsschüler der Frau Sprengmann sei. Die Klasse hatte darauf derart schallend gelacht, daß es in einem großen Teil des Gebäudes zu hören gewesen war. Herr Fischer und Dennis hatten an Sympathie ge- wonnen, das schien keine Frage. Dennis hatte gemeint, daß Herr Fischer seiner Kollegin Sprengmann wohl ähnliches erklärt haben mußte, wie er selbst es getan hätte,
- 9 - und schien nicht im Mindesten bedrückt zu sein, daß ihm der Aufwand abgenommen worden war. Jedenfalls hatte Dennis fortan seine Ruhe vor Jens Walters, Till Tollmann und Frau Sprengmann, was für Torben ein zusätzlicher Grund war, sich in Dennis Nähe wohlzufühlen. Dennis wußte viel, und Torben wollte viel wissen. Dennis erzählte von den wichtigsten historischen Rebellen und ihren Hintergrün- den, davon, daß jede Zeit ihre Rebellen hatte. Er erzählte es auch, daß es vielen Rebellen ergangen war wie Christus, daß sie zu Lebzeiten gehaßt, verfolgt und bekämpft worden waren, aber nach ihrem Tode von ihren Verfolgern oder deren geistig-kulturellen Erben verehrt worden seien. Robin Hood und Schinderhannes, Georg Büchner, Rosa Luxemburg und viele andere hatte er nicht nur genannt, sondern Torben dazu auch die Hintergründe ver- mittelt. Wie er es oft zu tun pflegte, hatte Dennis das Böse mit einem Hinweis auf die Nazis belegt, wie sie den Widerstandskämpfer der vorletzten Stunde Rommel zum Selbstmord gezwungen hatten, ihm anschließend aber ein Staatsbegräbnis der feinsten Sorte bereiteten, um ihn als unbedingten Soldaten des Führers in doppelt unwahrem Sinne zu heiligen und als Held zu mißbrauchen. Torben verstand die Geschichte zur einen Hälfte:Überall dort, wo Unrecht herrschte, wurde Widerstand gegen das Unrecht gnadenlos ausgemerzt. Doch die andere Hälfte verstand er nicht:Wie konnte ein bedeutendes britisches Kriegsschiff nach jemandem benannt worden sein, der nach den damaligen britischen Gesetzen ein Schwerverbrecher gewesen war? Weshalb gab es in Deutschland einen "Georg Büchner Preis", der offiziellen Charakter hatte, obwohl Büchner gefordert hatte: "Friede den Hütten, Krieg den Palästen!" und gewaltsame An- griffe auf Polizeistationen für passende Mittel der Auseinandersetzung mit dem damaligen Staat gehalten hatte? Stand womöglich zu erwarten, daß eines Tages das Konterfei von Christian Klar eine deutsche Gedenkmünze zieren werde, des Mannes, den der deutsche Staat aktuell wohl immer noch am meisten haßte? Torben fiel nichts ein, was un- bedingt dagegen zu sprechen schien. Andererseits, wie war es denn bei denen, die post mortem verflucht wurden? Stalin und Hitler waren zu Lebzeiten in den Himmel gehoben und praktisch direkt ab Eintritt des Todes für alle weitere Ewigkeit verflucht worden. Torben war wieder von der Absurdität ergriffen; daß wahre Helden und wahre Teufel zu Lebzeiten offenbar falsch und erst nach dem Tode richtig gewürdigt zu werden schienen, stand als Geist gewordenes Unverständnis vor ihm. Wie hatte Dennis die Existenz des Antichristen begründet? Dadurch, daß der herrschende Geist den Geist Christi als irr einstufe und er damit, sich selbst als vernünftig setzend, logischerweise antichristlich sein müsse. Dennis hatte sich aber nur auf das gesellschaftliche Verständnis von irr und vernünftig gestützt, aber konnte man dies überhaupt absolut gelten lassen? War es nicht irr, die Massenmörder zu Lebzeiten in die Lage zu versetzen, ihren schlimmsten innerlichen Abschaum in vollen Zügen über die Menschheit zu ergießen, diejenigen, die sich aber einer besseren Welt verschrieben hatten, zu verfolgen und mit aller Macht daran zu hindern, ihre guten Einsichten der Menschheit zum Wohle werden zu lassen? Aus christlicher Sicht war es irr, aus antichristlicher Sicht mußte es vernünftig sein, letzt- lich machte es keinen Unterschied, ob man christlich irr oder antichristlich vernünftig dachte, so wie es ebenfalls egal war,
- 10 - ob man christlich vernünftig oder antichristlich irr dachte. Wie schön wäre die Welt, wenn es nur irre Antichristen und vernünf- tige Christen gäbe, dachte sich Torben. In der Schulpause sprach er Dennis an:"Du, Dennis, wenn der Geist Christi als vernünftig betrachtet wird, dann ist der Geist des An- tichristen doch als irr zu betrachten, ist das richtig?" "Ja", antwortete Dennis knapp. "Wenn der Antichrist aber irr wäre, dann müßte er bei dem Versuch, Böses zu tun, doch Gutes tun?" "Sein Irrtum liegt nicht in der Planung und Ausführung von Handlun- gen, sondern in der Erkenntnis des Wesens der Dinge. Ein Staudamm kann ein technisch höchst gelungenes Bauwerk sein und dennoch eine ökologische Katastrophe in Gang setzen; auch die modernen Waf- fen sind nicht von Schwachköpfen konstruiert worden. Du kannst Dir die herrschende Gesellschaft entweder als christlich und irr oder als antichristlich und vernünftig vorstellen, sie kann auch eine Misch- form darstellen. Christlich und vernünftig zugleich kann sie jeden- falls nicht sein, und letztlich egal ist es, ob deutsche Firmen, die zur Verkrüppelung und Ermordung von Erwachsenen und Kindern die Mienen liefern, von irrem christlichen oder von vernünftigem teufli- schen Geiste dazu getrieben werden." Dennis war stets bemüht, Torben auf aktuelle Mißstände aufmerksam zu machen, doch Torben hatte derzeit andere Dinge im Sinn. Er war stolz auf sich, daß er richtig gedacht und eingeordnet hatte: War sein Vater nun ein irrer Christ oder ein vernünftiger Antichrist? Konnte man dies auf die Frage reduzieren, ob er eher irr zu sein oder eher antichristlich gesonnen schien? Aber woran wollte man unterscheiden, ob er aus Dummheit oder aber aus Überzeugung handelte, wenn das logische Resultat gleich sein sein mußte? Was sollte Torben lieber sein, wenn er es sich aussuchen könnte, was war leichter zu verändern, die Erkenntnis oder die Moral? Er fragte Dennis nach dessen Meinung dazu. Dennis:"Es gibt keinen Unterschied, weil Moral nicht ohne Erkennt- nis wachsen kann und keine wahre Erkenntnis wächst, ohne daß die Moral mitwachsen würde. Wahre Erkenntnis ist das reine Durchdringen von Dingen bis in ihr tiefstes Wesen; nur oberflächliche Betrachtung kann zu amoralischer Haltung führen, nicht aber die Erkenntnis davon, wie die Dinge wirklich sind. Es ist ein Unterschied, ob ein Bomber- Pilot einen Bombenteppich aus mehreren Tausend Metern Höhe abwirft, oder ob er Menschen das gleiche Leid antut, wenn er sieht, hört und fühlt, was er ihnen antut. Kanadische Piloten, die für die Royal Air Force Bombereinsätze gegen deutsche Städte geflogen waren, waren entrüstet und entsetzt, als sie später auf Filmen sahen, was sie angerichtet hatten. Man hatte sie im Glauben gehalten, es handle sich nur um militärische und industrielle Ziele, die sie zu bombadieren hätten, und sie sahen brennende Menschen und Berge von Leichen, vom Säugling bis zum Greis. Es ist ein ständiges Betreiben aller Kriegstreiber aller Nationen gewesen, dem Soldaten das Morden so zu gestalten, daß er sich mög- lichst wenig als Mörder fühlen konnte. Er soll zwar morden, aber ohne daß er dies bemerkt. Die Nazis hatten es in besonderer Weise vermocht, moralisierender Erkenntnis entgegenzuwirken, wie solche Worte wie 'Sonderbehandlung' beweisen, das richtig betrachtet für grausamen
- 11 - und heimtückischen Mord aus niedrigsten Motiven stand, wenn etwa Kinder mit einem Bonbon in der Hand in den angeblichen Duschraum geschickt wurden, um atemlähmend vergiftet zu werden, aus Gründen ihrer ethnisch- religiösen Zugehörigkeit." Dennis Worte klangen vernünftig, selbst die Nazis schienen seiner Ansicht deutlich recht zu geben, auch wenn die Dualität von Erkenntnis und Moral von ihnen sicherlich aus anderer Sicht betrachtet worden war als der des Dennis. Doch was mußte dieser Dualität als logische Folge entspringen? Daß der Antichtrist das Wesen seiner Moral dadurch verschleiern mußte, daß er sich der wahren Erkenntnis entzog, was er in höchster Vollendung angehen konnte, indem er sich den Schein des ihm entgegengerichteten christlichen Geistes gab! Je stärker die antichristliche Prägung, desto vehementer mußte das Bemühen sein, Christlichkeit und Moral zu heucheln. Es mußte ein kalkuliertes Spiel sein, gute Geister, die ihres Todes wegen nichts mehr fordern und sich ihres Mißbrauchs nicht erwehren konnten, hochzuloben, um sie für Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache zu mißbrauchen. Genauso wirksam war es, mit entrüsteten Worten auf tote Unholde zu zeigen; völlig gefahrlos konnte man sich sogar selbst als moralisch wertvoll fühlen. Und dann gab es noch die jeweils anderen, auf die man zeigen konnte, die man diffamieren konnte und auf die man aller Augen rich- ten konnte. Auch das hatten schließlich die Nazis vorgeführt, wie durch menschenverachtende Bewertung anderer eine Illusion der ei- genen Herrlichkeit aufgebaut werden, Erkenntnis und damit Moral verhindert werden kann. Es war kalkuliert, die Moralität der Macht nie zum Gegenstand ernst- hafter Betrachtung werden zu lassen, dafür moralischen Anstrich stets dadurch zu erstreben, daß in der einen oder anderen verlogenen Weise auf andere gedeutet wurde, entweder auf Tote, oder auf ohnehin er- klärte Feinde. Torben fielen wieder Worte seines Vaters ein, daß ihm im Falle eines Falles jede wichtige Person in Albring mit Ehrenerklärungen zur Seite stünde und bereit sei, Heike als irr zu bezeichnen. Einer gab dem anderen Ehrenerklärungen, gemeinsam verleumdete man die, die moralisieren wollten, und sang am Sonntag in der Kirche "Ein feste Burg ist unser Gott", ohne daß man es nur im Geringsten zugelassen hätte, das Wesen von Dingen und vor allem das eigene Wesen kritischer Betrachtung zu öffnen. Jesus Christus, Martin Luther King, Mahatma Gandhi und viele, viele andere wurden vom Antichristen benutzt, da- mit er sein schmutziges Ansinnen verbrämen konnte, während er zu keinem Zeitpunkt durch wahres Handeln zu beweisen bereit gewesen wäre, daß er guten Geistern wirklich nahestand. Christliche Kirchen, christlich genannte Parteien und sonstige Organisationen, wie laut hätten sie sein müssen, wären sie wirklich vom Geiste Christi beseelt, wie sehr waren sie aber darauf gerichtet, leise oder aber zumindest nicht laut genug zu sein. Der Antichrist huldigte dem vergangenen Guten und verfluchte das vergangene Böse, für sein wahres Handeln folgenlos gab er sich so feinsten moralischen Anstrich. Durch die Jahrhunderte und durch die Regionen der Welt schien dieses Prinzip vollständig zu gelten, sobald man ernsthaft be- trachtete. War dann aber noch der Einzelne verantwortlich, oder schwamm er auf einer Woge, die ihn unausweichlich trieb? Torben dachte wieder an seinen Vater, der ihm noch vor gar nicht so langer Zeit als der große Zampano in Albring erschienen war,
- 12 - der alles möglich machen zu können schien. Hatte er nicht selbst gesagt, er sei nur ein Rädchen im System? Hatte er nicht selbst gesagt, es könne ihm passieren, daß er einer Eigendynamik des Systems letztlich selbst ohnmächtig gegenüberstehe? Torben wandte sich wieder an Dennis: "Du meintest, man dürfe der Frau Sprengmann nicht böse sein, sie selbst sei sicherlich ein wunderbarer Mensch, doch leider von bösem Geiste getrieben. Wie meintest Du das?" wandte Torben sich an Dennis. "Frau Sprengmann ist wie ein Roboter:Sie hat bestimmte technische Funktionen und ein bestimmtes Programm; sie könnte auch nach einem anderen Programm arbeiten. Gemäß dieser Erkenntnis gingen alle Mäch- tigen der Welt vor, Hitler, Stalin und die Kirchen brachten es da- bei zu bemerkenswerten Erfolgen. Theoretisch wäre es möglich, Frau Sprengmann so umzuprogrammieren, daß sie genauso unbedacht Gutes täte wie derzeit Böses. Das wäre immerhin schon besser als der jetzige Zustand, aber die vorzügliche Lösung wäre es, in ihr die Er- kenntnis von den Dingen und sich selbst so wachsen zu lassen, daß sie bewußt Gutes täte. Das aber wollen die Mächtigen auf gar keinen Fall, ihnen ist eine programmierbare Frau Sprengmann viel lieber, und darin sind sich die angeblichen Demokraten absolut einig mit den Hitlern und Stalins. Wie der herkömmliche Typus des Priesters einzuordnen ist, stellt das Bild vom Hirten und seinen Schäflein klar." Torben war nicht klüger als zuvor. War sein Vater programmiert oder selbstbeherrscht? Er hakte nach:"Woran mißt Du es, ob jemand nach vorzüglichem Programme handelt oder ob er sein Handeln in vorzüglicher Weise selbst bestimmt?" "Du kannst es nicht messen, denn es gibt keinen äußerlichen Unter- schied, und man kann auch die These vertreten, daß es selbstbestimmtes Handeln letztlich gar nicht gebe, weil selbst der kritischste Kopf im Grunde nur programmiert sei. Wissenschaftler streiten darüber, ob ein Hirn nachgebaut werden könne, das in keinem Punkte dem menschli- chen unterlegen sei. Sicher ist, daß es kein Problem wäre, ein Hirn zu bauen, das fast alles viel besser könnte als das menschliche. Nicht sicher, aber auch nicht auszuschließen ist, ob Selbstreflexion, Kreativität und Gefühle technisch realisiert werden können. Es spricht aber vieles dafür, daß es sich letztlich um ganz normale Prozesse von Aktion, Wahrnehmung, Informationspeicherung und Informationsver- arbeitung handeln dürfte, die zwar insgesamt komplex, in ihren Grund- strukturen aber dafür so simpel sind, daß sie in einem intelligenten System, das interaktiv mit der Umwelt agieren kann, künstlich ermög- licht werden könnten." Torben war hinsichtlich der Frage, ob sein Vater selbstbestimmt oder programmiert handelte, immer noch nicht weitergekommen. Wollte Dennis andeuten, daß selbstbestimmtes Handeln im besten Falle als Illusion existent war, daß letztlich alles technisch funkionierte? Waren alle Menschen nichts als aufgezogene Puppen, auch diejenigen, die den größten Teil ihrer Artgenossen selbst tanzen ließen? Torben hatte eine Ahnung: "Du meinst, Gott bestimme letztlich den Gang aller Dinge?" "Gott oder der Teufel", meinte Dennis,"wenn wir den Menschen als Maschine betrachten, und wir selbst, wenn wir durch die Hinwendung zu Gott im Geiste Christi den Punkt überschreiten, an dem wir uns selbst überwinden und Gott begegnen. Der Mensch ist eine ziemlich
- 13 - dumme Maschine, wenn er sich nicht selbst treibt. Erst in Folge ange- strengten Strebens nach Erkenntnis und Gott, die letztlich Eins werden, kann aus dem Menschen ein selbstbestimmtes Wesen werden, jenseits seiner eigenen Grenzen." Der Antichrist mußte eine Maschine, der Christ ein selbstbestimmter Mensch sein, so meinte Torben verstanden zu haben. Aber wie konnte man seine eigenen Grenzen denn nun überwinden? Torben hakte nach: "Wenn erst der selbstbestimmt handelt, der seine eigenen Grenzen überschritten hat, dann handelt doch niemand selbstbestimmt!" Dennis sah Torben etwas verständnislos an. "Das Überschreiten der eigenen Grenzen ist gelegentlich mit Hilfsmitteln möglich. Mit dem Flugzeug können wir fliegen, der Geist Christi kann uns helfen, über Grenzen zu gehen, hinter denen wir Irrationalität sehen oder vermuten, hinter denen aber Erkenntnis und Gott wohnen; er kann uns auf Türen weisen, die sonst für uns nicht existent wären, hinter denen wir aber unserer Vollendung näher sind. Wir müssen ausbrechen aus all dem Denken, das uns längst zum Schema geworden ist, dem wir folgen wie ein Computer dem Programm, das er gerade im Speicher ab- arbeitet." Nun hatte Torben verstanden. Wenn Dennis recht hatte, war Torbens Vater programmiert und handelte unreflektiert. Demnach war er schuld- unfähig. Aber wer beging dann schuldhaft Böses, wer programmierte? Wie konnte man umprogrammieren oder Erkenntnis wecken, wie brachte man jemanden zum Geiste Christi hin? Dennis schien langsam mehr zu ahnen, als es dem Torben lieb war, denn er fragte:"Du möchtest jemanden verstehen, der für Dich wich- tig ist und den Du nicht verstehst?" Torben sah Dennis an, wie jemand, der sich ertappt fühlte. Dennoch wollte Torben Dennis nicht einweihen. "Ich verstehe viele Menschen nicht, oft auch solche nicht, die mit allen amtlichen Siegeln der Kompetenz ausgestattet sind, wie zum Beispiel Frau Sprengmann. Ist es Dir denn je gelungen, aus einer Person wie ihr die bösen Geister zu verjagen?" "Ich denke, in keinem Falle völlig, aber in vielen Fällen ein wenig. Zugeben muß ich, daß ich dieses Feld längst nicht erforscht habe, es wären wohl eingehende Kenntnisse der Psychologie nötig, ebenso eingehende Kenntnisse von all dem, was die Person selbst für wichtig hält. Du kannst die Teufel schwer aus einem Priester austreiben, wenn Du keine Ahnung von seinem religiös-kirchlichen Hintergrund hast, zum Beispiel. Die Austreibung des Teufels be- deutet die Austreibung einer Autorität und ihren Ersatz durch eine andere. Wer seine Teufel nicht selbst aus sich herausbekommt, dem können sie nur von jemandem ausgetrieben werden, zu dem er aufsieht und von dem er sich deshalb sagen läßt, wie er zukünftig zu denken hat, was mehr oder weniger subtil erfolgen kann." Damit war Torbens Hoffnung wohl geplatzt, die religiösen Ansätze des Dennis Schulze zur Verhaltensforschung der Umerziehung des Vaters dienbar machen zu können. Wie hätte er dem Vater ein Wesen besorgen sollen, zu dem dieser aufzusehen bereit war und das zudem noch willens und fähig wäre, ihm die Teufel auszutreiben? Es wäre bestenfalls der bärtige Gott auf der Wolke in Frage gekommen, dachte Torben. Dennis ahnte wohl, was Torben bewegte, und er sagte:"Wenn es den
- 14 - einfachen Kniff gäbe, Menschen zur Vernunft, zur Christlichkeit, wozu auch immer zu treiben, so wäre ich nicht der einzige, der alles stehen und liegen ließe, um den ganzen Tag lang Leute zu kneifen. Die Menschheit zettelt in allen Bereichen ihren eigenen Untergang an, selbst unzweifelhafte Tatsachen und unstrittige Zusammenhänge halten den Irrsinn nicht ab, sich immer wieder neue Bahnen zu brechen. Dabei ist es völlig egal, wo Du hinschaust, Du findest es überall. Andererseits aber macht genau dieses Phänomen Hoffnung:Massen, die sich mit solchen Verhält- nissen zufrieden geben, müßten sich auch mit lebensfreundlichen Verhältnissen zufriedengeben können. Und der Widerstand in der Intelligenz wächst, ernstzunehmende, international bekannte Wissen- schaftler haben begonnen, Irrsinn tatsächlich als Irrsinn zu be- zeichnen, anstatt von nicht hinreichend erforschten Phänomenen zu reden, wenn es bereits klar ist, worum es geht. Du darfst nicht erwarten, daß das Himmelreich vom Himmel fällt. Das Böse ist nicht nur mächtig, sondern gelegentlich brilliant intelligent, jedenfalls aber fintenreich und bei der Wahl der Mittel skrupellos. Jeder kleine Sieg gegen das Böse muß hart und oft beherzt erkämpft werden, nimmt ihm aber etwas von seinem Atem. Es bieten sich wirklich Vergleiche mit dem Exorzismus im Film an: Nimm die Wahrheit statt des Kreuzes, und Du siehst, wie der Besessene Gift spuckt, wie seine Augen leuchten, und Du hörst, wie der Teufel aus ihm geifert. Nicht im Kreuze, sondern in der Wahrheit steckt der Geist Christi; das Kreuz ist nur ein Stück Materie, das jeder beliebig mißbrauchen kann." An ein hartes und beherztes Erkämpfen von kleinen Siegen gegen seinen Vater hatte Torben nicht gerade gedacht, zu sehr wußte er, daß sein Vater wirklich den Besessenen herauskehrte, wenn es an die Wahrheit seiner Existenz ging. So schön es auch war, sich mit Dennis austauschen zu können, seine Rezepte waren doch zu strategisch angelegt und auch zu gefährlich, um sinnvoll zur Behandlung des Vaters eingesetzt zu werden. Schließlich hatte der überdeutlich zelebriert, wessen Geistes Verehrung er absolut einforderte und womit er Heiligenschändung zu strafen bereit war. Torben dachte voller Ekel an die Wurst und voller Mitleid an Heike. Dennis schien zu ahnen, daß Torben nicht der Mutigste war, und fuhr fort:"Es ist kein Unterschied, ob man aus Feigheit oder aus falscher Gesinnung versagt, wer das Himmelreich auf Erden wirklich will, der darf nicht versagen. Hast Du denn keinen Mut und kein Zutrauen zu Dir selbst? Fühlst Du Dich wie der Wurm gegenüber der Schlange? Auch der Teufel kocht nur mit Wasser und hat ein Problem, das niemand hat, der im Geiste Christi lebt: Er muß die Wahrheit fürchten, damit das Sein an sich und damit letztlich sich selbst." "Und wer sich mit dem Teufel anlegt, muß Lüge, Grausamkeit und Gnadenlosigkeit fürchten", erwiderte Torben. "Und sich darüber hinwegzusetzen, ist die Überwindung einer sehr maßgeblichen menschlichen Grenze, die, wenn sie geleistet wird, bereits zu erheblicher Konvergenz mit dem Geiste Christi führt. Der Antichrist fürchtet den Mut, der sich aus nichts als der Reinheit des Denkens und des Glaubens gewinnt, genauso wie die Wahrheit selbst, denn diesem Mute weiß er nichts mehr entgegenzu- setzen, und dieser Mut bewirkt letztlich die Erkenntnis der Wahr- heit. Es ist keine behagliche Angelegenheit, dem Geiste Christi
- 15 - zuzustreben, es ist der kühne Blick in die Augen des Teufels, der übergroß und übermächtig nur solange scheint, wie wir nicht die Schranke der Furcht vor ihm durchbrechen und ihm die reinste und edelste aller Kräfte anstatt von Ohnmacht entgegensetzen." In der Theorie zu heroisieren, das brauchte nicht schwer sein, aber es mußte schwer sein, in Wirklichkeit heldenhaft aufzutreten, dachte Torben. Zudem, mußte nicht nicht noch zwischen heldenhaft, todessüchtig und dumm unterschieden werden, wenn jemand sich durch gar nichts mehr beeindrucken ließ? Es konnte doch wohl nicht etwa im christlichen Sinne vernünftig sein, wenn man sich unnötig zum Opfer machte, ohne daß man damit irgendetwas Sinnvolles erreichen konnte? "Gib es in Deinem Modell auch den Fall, daß Widerstand gegen das Böse zwecklos sein kann?", fragte Torben endlich. "Widerstand gegen das Böse hat definitionsgemäß bereits einen Zweck, was allerdings nicht heißt, daß es sinnvoll sei, in ein offenes Messer hineinzulaufen. Christlich sein und rational denken ist kein Widerspruch, sondern eine geistige Einheit. Leute wie Schindler und Wallenberg tranken mit der SS Kaffee und retteten Tausende von Juden vor der Gaskammer, dabei standen sie stets einem Teufel gegenüber, der sie jederzeit zerquetschen konnte. David stand auch dem Goliath gegenüber und wäre ein toter Mann gewesen, wenn er vor Angst gezittert hätte. Vor wem hast Du Angst, Torben?" "Angst? Ich und Angst?" Torben fühlte es, daß Dennis die Spur zu seinen Problemen gefunden hatte und nun bemüht war, der Fährte zu folgen. "Nein, ich selbst habe gar keine Angst,", log Torben, "ich denke nur, viele Menschen hätten sie." "Es trifft sich gut, daß Du keine Angst hast, denn in 25 Metern Entfernung belästigen Till und Jens soeben ein kleines Mädchen, was die Pausenaufsicht nicht zu bemerken scheint. Dort also wartet das Böse in Form von Till und Jens auf eine Klarstellung, würdest Du das bitte übernehmen?" Torben hatte die Szene aus seiner Perspektive nicht sehen können, wie ein Blitz drehte er sich dorthin, wo sie spielen mußte. Er be- gegnete förmlich Gott, denn ihm schossen die Gedanken derart schnell durch den Kopf, daß er eine eigene Grenze überschritten haben mußte. Welcher Teufel war dieser Dennis, ihn in einer solchen Art und Weise mit dem gesprochenen Wort festzunageln? Es bestand leider kein Zweifel daran, daß Till und Jens dabei waren, ein kleines Mädchen grob zu ärgern. Till hatte es zwar nie gewagt, sich tätlich an Torben zu vergreifen, vermutlich, weil er wußte, daß Amtsrichter Holten mehr war als Kriminalkomissar Tollmann, aber mit Jens Walters hatte Torben ja gar nicht unlängst körper- lich unangenehme Erfahrungen gemacht. Torben kannte nicht die Knif- fe, die Dennis kannte, auch wenn er nicht unsportlich war. Torben hatte Angst, Dennis setzte nach:"Stell Dir vor, es sei Deine Schwester, Torben! Da, siehst Du, Jens hat sie getreten, sie fängt an zu weinen! Wenn Du Angst hast, dann laufe ich jetzt hin, jetzt sofort?!" Dennis hatte sich bereits in Position gebracht, um loszurennen, sah Torben aber noch einen Sekundenbruchteil fragend an. Torben rannte los, ohne daß ihm klar war, was er anstellen sollte. Nein, Gott schien gerade nicht bei ihm zu sein, er kam am Tatort an und hatte sich nichts zurechtgelegt. Auf der einen Seite die
- 16 - Angst vor Jens Walters, auf der anderen die Erwartung des Dennis, die er mit seinem vorlauten Gerede von Angstlosigkeit selbst ge- schaffen hatte. "Laßt sie sofort in Ruhe!", schrie er Till und Jens an, die zwar sofort Folge leisteten, sich aber gleichzeitig dem Torben zuwand- ten. Jens sah Torben an, als ob dieser den Verstand verloren haben müsse, und fragte:"Reicht Dir einmal Nasenbluten nicht? Ohne Deinen neuen Freund kannst Du Dir gar nichts erlauben, Du Armleuchter!" Jens trat auf Torben zu, offensichtlich gewillt, ihn anzugreifen. Torbens Synapsen schalteten mit höchster Frequenz, er war wieder bei Gott. Jens war bis auf eineinhalb Reichweiten an ihn herangekommen, es konnte nur noch Sekundenbruchteile dauern, bis es krachte. "Hilfe, ein Verrückter!" schrie Torben aus voller Kraft, so laut und überraschend, daß Jens zwei Schritte zurückwich und erschrak:"Sag mal, spinnst Du? Was soll das?" Torben hatte einen ersten Erfolg erzielt, seine Nase blutete noch nicht, und Jens zeigte sich eingeschüchtert. Das gab ihm Mut, er setz- te nach:"Findest Du es nicht verrückt, kleine Mädchen zu quälen und anderen die Nase blutig zu schlagen? Du solltest mir dankbar sein, daß ich gekommen bin, denn eigentlich wollte Dennis kommen und Dir den Arm brechen. Er meinte, mit Gipsarm wärest Du ein Segen für den Schulhoffrieden, ich habe ihm gesagt, daß Du auch ein netter Kerl sein könnest, wenn Du wollest." Jens hielt den Abstand, aber nahm den Mund noch voll: "Ihr beiden Verrückten scheint wohl eine neue christliche Heilsoffen- sive starten zu wollen, oder was quatschst Du so pastoral? Könnt Ihr Euch nicht andere Schäfchen suchen, wir sind doch schon bei Frau Sprengmann!" Jens schien sich schiefzulachen. Torben war sich sicher, daß der Hinweis auf Dennis gezogen hatte, denn es sah über- haupt nicht mehr danach aus, daß Jens Gewalttätigkeiten in Betracht zu ziehen schien. "Ich bin auch bei Frau Sprengmann, und wir verzichten zumindest vorerst gern darauf, Euch in unserer Herde aufzunehmen, wenn Ihr darauf verzichtet, Wehrlose vor unseren Augen zu bedrängen. Dennis ist in solchen Dingen sehr empfindlich, er flog bereits einmal von der Schule, weil er einem Kinderquäler das Schlüsselbein und einen Arm gebrochen hatte." Nun war der Antichrist vorerst geschlagen, Jens und Till sagten nichts mehr und wirkten, als seien sie dem Tode soeben entgan- gen. Sie mochten Torben Holten beide nicht, aber dennoch stand er bei ihnen wie bei allen anderen im Rufe, nicht falsch Zeugnis wider seinen Nächsten zu reden. Daß Dennis blitzschnell richtig zufassen konnte, hatten sie bereits erfahren, jetzt aber mußten sie überzeugt sein, daß man jedem Konflikt mit Dennis unbe- dingt weit aus dem Wege gehen mußte. "Wir wollen nicht dauernd Ärger mit Dir und Dennis", sagte Jens. "Es macht ja auch gar keinen Sinn, sich unnötigerweise zu streiten, und auch das mit dem Mädchen war nur ein dummer Spaß, kommt nicht wieder vor." "Ich freue mich, daß Ihr vernünftig seid, ich werde Dennis von Euch grüßen."
- 17 - Torben drehte sich um, schloß die Augen und ging die ersten Meter ohne zu atmen und mit geschlossenen Augen. Es schien ihm, als habe sich alles nicht ereignet, als habe er nicht kurz davor gestanden, von Jens einen Schlag auf die Nase zu erhalten, als habe er nicht gelo- gen, daß sich die Balken bogen. Wieso hatte er überhaupt gelogen? War der Sieg nicht schon auf bestem Wege, nachdem er geschrien hat- te? Mußten die frei erfundenen Hinweise auf Dennis Gefährlichkeit und Engagement überhaupt sein? Wie war es gekommen, daß er, der ansonsten aufrichtig fast bis zur Dummheit war, nun so professionell und überzeugend gelogen hatte? Torben hatte einen vermeintlichen Sieg gegen den Antichristen errungen, wußte aber nicht mehr, wie er dazu gekommen war. Hatte er nach einem Programm gehandelt, das nicht von ihm selbst sein konnte? Dennis erwartete ihn mit den Worten: "Na, wie war es? Immer noch nicht gelernt, was Angst bedeutet?" Dennis fragte derart naiv, als ob er es Torben wirklich abgenommen gehabt hätte, daß dieser keine Angst habe. "Na ja, es ging so", entgegnete Torben. "Du warst bei Gott," sagte darauf Dennis, "die Idee mit dem Schrei war so genial, daß Dein Geist sich in der Verschmelzung mit dem Geiste Christi be- funden haben mußte. Alle sahen auf Euch, und alle waren wie er- starrt. Hast Du Jens und Till auch noch die Grundsätze vernünf- tigen Christentums nähergebracht?" Torben war verschämt. Hatte er Dennis nicht als brutales Monster, wenn auch aus hehren Motiven zum Monster werdend, an die Wand ge- logen? Was sollte er nun dem Dennis sagen? "Hast Du gegen irgendeines der zehn Gebote verstoßen, Torben?" Dennis schien Lunte zu riechen, und Torben wurde rot."Ich, ich, ich...", stammelte er, bis ihm auffiel, daß diese Art des Stammelns ihm bekannt war, und er beschämt innehielt. "Du hast gesündigt, lieber Torben. Was hast Du ihnen erzählt?" Torben gab auf und erzählte gesenkten Blickes, wie er Jens und Till belogen hatte und mit welchem immerhin beeindruckenden Ergebnis. Dennis nahm Torbens Worte völlig ruhig auf und sagte dann:"Du hast nicht richtig gelogen. Ich wäre wirklich einmal fast geflogen, weil ich jemandem den Arm gebrochen hatte, der erst ein Kind gequält und dann nach meinem Kopf getreten hatte. Es könnte sein, daß Du eine emotionale Gewißheit darüber gewinnen konntest, was auf Geistes- und Gefühlskonvergenz schließen ließe. Es gibt immerhin diverse Phänomene der Gedankenübertragung, die man noch nicht erklären kann, so daß ich Dich im Zweifel der Lüge unschul- dig sprechen möchte; Du wirst mich intuitiv nur nicht ganz richtig verstanden haben, nehme ich an. Jedenfalls mußt Du einen pädagogischen Effekt erzielt haben, der nicht unbeachtlich ist, allerdings im Schema der Programmierung. Die Sache hat aber jedenfalls eine Kehrseite:Wenn nun jeder hier meint, ich sei extrem gefährlich, werde ich zwar vor den meisten meine Ruhe haben, vor den Übrigen werde ich mich aber besonders in Acht nehmen müssen. Gott war nur halb bei Dir, Du hast mich ganz schön in etwas hineingeritten."
- 18 - So weit hatte Torben bis dahin noch gar nicht gedacht, doch wenige Tage später sollte sich zeigen, daß Dennis das Problem richtig eingeschätzt hatte. Dennis war morgens mit deutlichen Blessuren im Gesicht erschienen; nur dem Torben erzählte er, was sich zugetragen hatte: Er sei völlig unerwarteterweise von drei türkischen Schülern so 'in die Mangel genommen' worden, daß er keine wahre Chance gehabt habe. Sie hätten ihn beschimpft, ihn aber nicht zu Worte kommen lassen, ihn getreten und geschlagen. Neben seinen Verletzungen im Gesicht habe er Prellungen und Blutergüsse davongetragen und sei glücklicherweise von beherzten Passanten vor Schlimmerem bewahrt worden. In der Schule konnte der Vorfall schon deshalb nicht unbehandelt bleiben, weil die Biologielehrerin Behrends die augenscheinlichen Blessuren des Dennis nicht ohne Kenntnis der Hintergründe akzeptieren wollte. Dennis weigerte sich aber beharrlich, seine Peiniger preiszugeben, er sagte nur, die Sache sehe schlimmer aus, als sie sei, und er sei vermutlich bloß einer Verwechselung zum Opfer gefallen. Dennis trug dies vor, als ob er selbst an eine Verwechselung glaubte, und Frau Behrends gab irgendwann den Versuch auf, der Sache doch noch näher zu kommen. In der großen Pause stieß er Torben an:"Komm, wir gehen jetzt zu den Türken." Es gab an dieser Schule Türken, die kulturell nicht von Deutschen verschieden waren, aber es gab auch an dieser Schule den Schlag von Türken, der konservativen Vorstellungen mittel- alterlicher Prägung in weiten Zügen verschrieben war, für den der Begriff der Sippe noch eine Bedeutung hatte, die ihm in der mitteleuropäischen Gesellschaft längst abhanden gekommen war, und dem Gewalt als Mittel sozialer Auseinandersetzung noch recht nahe lag. Der Mann schlug die Frau, die ihre Kinder, ältere Kinder die jüngeren Kinder, so daß man sich manches Wort ersparen konnte. Sie agierten stets als Gruppe und waren daher besonders gefährlich, wie Dennis es gerade selbst erlebt hatte. Dennis sah einen seiner Peiniger in einer Gruppe von etwa einem halben Dutzend Türken stehen, und zeigte ihn dem Torben. "Das ist Yazin", meinte Torben, "er ist in Jens Klasse." "Laß uns hingehen", meinte Dennis. Torben war sich sicher, daß Dennis es schon schaffen werde, und ging mit. Als sie ankamen, wurden sie von Yazin bemerkt und erkannt. Yazin warf einen schnellen Blick in die Runde, wie um zu sehen, wer im Falle eines Falles zu seiner Hilfe bereit sei. Erst jetzt aus der Nähe sah Torben, daß auch Yazins Gesicht nicht heil ge- blieben war. Wenn Dennis keine wahre Chance gehabt hatte, dachte Torben, dann mußte Yazin wohl vor eine Laterne gelaufen sein. Dennis steckte seine Hände in die Hosentaschen und stellte sich er- kennbar so vor Yazin hin, wie es wohl niemand getan hätte, der angreifen wollte. Dann sah er Yazin in die Augen und sagte: "Ich weiß nun Deinen Namen, Yazin. Weshalb ich Deine Bekanntschaft gemacht habe, weiß ich noch nicht. Bitte sei doch wenigstens so nett, mir den Grund zu verraten!" Dennis wirkte freundlich
- 19 - und ruhig, so, daß man es nicht hätte annehmen wollen, in welcher Weise er Yazins Bekanntschaft gemacht hatte. In Yazins Gesicht tauchten Spuren ersten Zweifels auf, ob er hier einem unerbittlichen Feind gegenüberstehen mußte. Er entgegnete aber mit haßerfüllter Stimme: "Bist Du nicht der, der behauptet hat, alle Türken seien Dreck, und wir würden unsere Schwestern und Mütter ficken? Egal, wem Du schon alles die Knochen gebrochen hast, wir machen Dich fer- tig!" "Nein, der bin ich nicht. Hättet Ihr nicht früher fragen können?" Dennis sprach unverändert freundlich. Torben wunderte sich, daß er nicht brüskiert war, in welch häßlicher und hinterhältiger Weise die ausländerhassenden Jens und Till drei Türken gnadenlos auf Dennis gehetzt haben mußten. Torben stellte fest, daß ihn nichts mehr schockieren zu können schien. Er fühlte sich auch völlig frei von Angst, selbst als er sagte:"Yazin, Du bist ein Idiot. Gehe zu Ibrahim Özdemir und erzähle ihm, was für einen Wahnsinn Ihr an Dennis begangen habt, dann wird er Dir erklären, weshalb Du ein Idiot bist. Komm Dennis, erst wollten sie nicht mit Dir reden, für heute sind wir nun fertig." Yazin ließen sie mit geöffnetem Munde stehen. Ibrahim Özdemir war in der selben Klasse wie Torben und Dennis, ein angenehmer und kluger Junge, der wußte, was er wollte, anderen aber nicht schadete. Er war Türke mit humanistischer Seele und wurde von den deutschen wie auch von den türkischen Schülern geachtet, und jedenfalls wußte er, daß Dennis nicht anti- türkisch oder sonstwie unmenschlich eingestellt war. Am selben Tage passierte nichts, doch am nächsten Tage erschienen die drei Tatbeteiligten bei Torben und Dennis auf dem Schulhof. Sieh mal an, dachte Torben, sie scheinen alle irgendwie mit einer Laterne in Kollision geraten zu sein. "Es tut uns leid", sagte Yazin zu Dennis. "Wir waren überzeugt, daß Du uns und unsere Familien schwer beleidigt haben mußtest. Wir waren wirklich Idioten." "Schön, daß Ihr das einseht. Wenn Ihr in Zukunft vorsichtiger mit dem umgeht, was man Euch erzählt, können wir die Sache gern vergessen und freundschaftlich miteinander umgehen, die Zeichen unserer Einigkeit tragen wir vier ja bereits im Gesicht", sagte Dennis ohne jeden Ton der Überheblichkeit in seiner warmen, freundlichen Art, so daß auch Yazin freundlich lächelte. Am darauf folgenden Tage erschien Till Tollmann mit Blessuren im Gesicht und, wie sich für Torben und Dennis erst später herausstellte, ebenfalls Jens Walters. Erwähnenswert war noch, daß beide sämtlichen Fragen aus dem Wege gingen, wie sie in ihre bedauerliche Verfassung geraten waren. Mancher Lehrer mochte sich wundern, daß es binnen 48 Stunden sechs mehr oder weniger blaue Gesichter an der Schule, aber keine Erklärung dafür gab, doch das mußte vorübergehen. Torben hatte hinzugelernt. Wer mutig auftrat, dem passierte nicht unbedingt etwas. Doch was wäre gewesen, wenn Jens auf Torben
- 20 - eingeschlagen hätte oder gar die Türken auf Dennis und ihn losgegangen wären? Hätte ihm sein Mut dann noch genutzt? "Was empfandest Du, als Yazin und seine Freunde auf Dich losgingen?", fragte er Dennis. "Einen ganz kurzen Moment dachte ich, daß ich lieber woanders wäre, doch dann mußte ich mich so sehr mit den Dreien und mir selbst befassen, daß ich nicht mehr viel nebenher denken konnte." "Hattest Du keine Angst?" "Wovor willst Du denn noch Angst haben, wenn Du geschlagen und getreten wirst, von allen Seiten zugleich? Etwa davor, daß man Dir weh tun könne? Meinst Du, das würde irgendetwas nützen in einer solchen Situation? Du würdest Dich höchstens selbst blok- kieren und damit auch noch Deiner eigenen Angst zum Opfer fallen." Da Yazin und die beiden anderen kaum besser ausgesehen hatten als Dennis, mußte es Dennis wirklich gelungen sein, sich nicht zum Opfer eigener Angst zu machen, dachte Torben. Dennis fuhr fort:"Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Angst ist so alt, wie der Mensch selbst. Die Ninjas des Mittelalters zogen mit der Vorstellung in den Kampf, daß der Tod etwas Köstliches sei und sie ihn daher suchen wollten. Wenn diese Vorstellung richtig verinnerlicht war, hatte der Ninja die beste Voraussetzung, um den Kampf zu gewinnen, denn er hatte ja nichts zu verlieren, war völlig unblockiert durch jede Angst. Bereits das Auftreten, das er dadurch gewann, verängstigte seine Gegner und blockierte sie in vielen Fällen so sehr, daß er ihnen mühelos die Köpfe abschlagen konnte. Die Erlangung eigener Angstfreiheit und die gezielte Verängstigung aller potentiellen Gegner waren Zwecke des Ninja-Kultes, innerhalb dessen solcher Aberglaube geschürt wurde wie der, daß Ninjas der Zauberei mächtig und deshalb unbesieg- bar seien." Von solchem Nimbus ausgehend mußte man sich sicher fühlen, dachte Torben, doch lag der praktische Nutzwert für ihn bei null, wie es ihm schien."War es Dir auch egal, was Yazin und die beiden anderen mit Dir machen würden?" "Natürlich nicht, aber gerade deshalb habe ich mich ja mit aller Kraft gewehrt. Ich kämpfte mit der Vorstellung, daß sie zwar nicht von allein aufhören würden, es aber leid werden müßten, selbst einzustecken. Außerdem hat jeder Treffer meinerseits mir an einer von drei Seiten kurzfristig Ruhe verschafft, weniger Schläge, weniger Tritte also für mich." "Wenn keine Passanten dazwischengegangen wären, wärest Du im Kranken- haus gelandet", stellte Torben fest. "Wenn ich mich nicht gewehrt hätte, wäre ich schon krankenhausreif gewesen, als die Passanten einschritten. Und wenn es wirklich sein soll, daß man im Krankenhaus oder meinetwegen auch auf dem Fried- hof landen soll, dann landet man ohnehin dort, ob mit oder ohne Angst. Angst kann nur dann Sinn machen, wenn wir dem Grund der Angst aus dem Wege gehen können, und selbst dann ist sie oft genug noch schädlich." Torben konnte es sich immer noch weit besser vorstellen, sich
- 21 - vor Angst erstarrt von Jens Walters verhauen zu lassen, als sich nach Leibeskräften gegen drei brutale Schläger zur Wehr zu setzen, gegen die er letztlich keine Chance haben konnte. Konnte man im Durchschnitt nicht doch günstiger davonkommen, wenn man sich nicht wehrte, sondern lieber bettelte und flehte? War das nicht sicherer? "Was wäre denn, wenn sie Dich wirklich ernsthaft verletzt hätten?" "Das wäre wirklich ernsthaft tragisch." "Wenn Du Dich aber nicht gewehrt hättest, stattdessen geweint und gefleht hättest, meinst Du, sie hätten weiter auf Dich einge- prügelt?" "Warum denn nicht? Sie verprügelten mich doch nicht, weil ich ihnen zu wenig gejammert hatte. Den Juden im Nationalsozialismus nutzte es auch nichts, wenn sie jammerten und flehten. Viele von ihnen hatten geglaubt, der Nationalsozialismus werde seinen Judenhaß irgendwann schon aufgeben, wenn sie sich nur klein und ehrerbietig zeigten. Sie zeigten sich solange klein und ehrerbietig, daß die Nazis die sogenannte Endlösung in aller Ruhe vorbereiten konnten. Ein Wolf beißt keinem unterlegenen Artgenossen in die ihm dargebotene Kehle, ein Mensch hingegen schon. Wen verprügeln unsere Freunde Till und Jens denn am liebsten? Doch die, die sich nicht wehren, sondern jammern. Meinst Du, Yazin und seine beiden Kollegen seien da anders? Niemand verprügelt gern, wenn er dabei selbst Prügel bezieht." Das war logisch. Doch was war, wenn man nichts aufbringen konnte, was der Gegner zu fürchten hatte? "Was hätten die Juden unter Hitler denn machen sollen?" "Nicht nur die Juden, sondern alle, die das Unrecht begriffen hatten oder hätten begreifen müssen, wenn sie sich aus Angst oder Oppor- tunismus nicht selbst belogen hätten. Man kann heute nicht sagen, dieser oder jener wäre der Königsweg gewesen, man kann aber fest- stellen, daß Hitler lange nicht ernstgenommen wurde und selbst reichen Juden der Weimarer Zeit als einzige Rettung vor dem Kommunismus erschien. Man kann auch fragen, was beispielsweise geworden wäre, hätten Tausende deutscher Juden zur Zeit der Olympiade in Berlin einen Fußmarsch nach Dänemark angetreten, dort die Verhältnisse erklärt und um Asyl gebeten. Wenn es nach 1933 noch eine Zeit gab, in der Widerstand am ehesten machbar gewesen wäre, dann zur Zeit der Olympiade, als die Nazis sich vor den Augen des Auslandes kultiviert gaben. Sicher ist, daß Widerstand gegen Hitler nie schlimmer enden konnte als in Auschwitz, Wider- stand gegen Hitler daher objektiv für keinen deutschen Juden ein zusätzliches Risiko dargestellt hätte." Wären alle Juden wie Dennis gewesen, dann hätten sie irgendetwas gemacht, da war Torben sich sicher. Ihm wurde zunehmend klarer, daß Dennis jedem und allem Widerstand entgegensetzen würde, wenn die Logik dies forderte. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften würde er Geist und Körper drangsalieren und strapa- zieren, in der Summe seines Vermögens würde er niemandem Freude bereiten, der ihn bedrückte oder gar zu zerquetschen suchte, wie es aussah. Torben sah Parallelen zwischen Dennis und dem Pfeilgiftfrosch, den er aus dem Biologieunterricht der Frau Behrends kannte, nur, daß dem Dennis die Wehrbereitschaft nicht anzusehen war.
- 22 - Torben fuhr fort: "Die Juden konnten es sich nicht aussuchen, ob sie Hitler zum Feind haben wollten, die meisten Deutschen aber schon. Wider- stand hieß für sie aber auch KZ oder Tod." Torben war es völlig klar, daß Widerstand im Falle vorheriger Gewißheit des eigenen Sieges selbstverständlich war, das konnte jeder. Nicht mehr jeder konnte es, doch sinnvoll war es bestimmt, auch dort Widerstand zu leisten, wo man ansonsten jedenfalls verloren war. Wie war es aber dort, wo man durch Widerstand sowohl gewinnen als auch verlie- ren konnte? Wo man sich zudem heraushalten konnte? "Wie weit wärest Du denn gegangen, wenn Du 1936 Reichsbürger, also Arier, gewesen wärest?" schloß Torben ab. "Es tut mir leid, daß ich damals nicht Reichsbürger war. Ich halte die späte Geburt nicht für eine Gnade, sondern für einen Verlust. Demjenigen, der die Äera Hitler aufrichtig verflucht, dem hätte nichts Besseres passieren können, als rechtzeitig geboren zu werden, um Hitler entgegenzuwirken. Wer den Holocaust aber verurteilt und sich freut, daß er durch späte Geburt dem Drucke entgangen sei, sich im niedersten aller Sinne schuldig zu machen, der kann von seiner eigenen Moral keine hohe Meinung haben und macht sich sozusagen noch nachträglich aus dem Staub. Das wahrhaft teuflische am Kanzlerwort von der Gnade der späten Geburt aber ist, daß es suggeriert, daß das Versagen vor dem Bösen derart zwangsläufig sei, daß daraus kein Gefühl von Schuld zu resul- tieren brauche. Das ist nachträgliche Heiligung von Sündern und die generelle Absolution für alle, die sich in Gegenwart und Zu- kunft schuldig machen, weil sie aus Angst vor dem Bösen versagen. Wahre Moral aber ergibt sich nicht dem Bösen, sondern stellt sich ihm stets entgegen. Zweifelst Du an meiner Moral, Torben?" "Ich? Bisher eher im Gegenteil." "Sobald Moral sich über Zweifel erhebt, verliert sie ihren ethischen Anspruch, also höre bitte nie auf, an meiner Moral zu zweifeln, sondern suche nach meinen Fehlern und weise mich darauf hin. Ich kann allerdings nicht sagen, ich hätte dieses oder jenes konkret getan, aber ich hätte hingesehen, analysiert, geplant und dann getan. Widerstand gegen Hitler mußte kreativ, mutig und intelli- gent sein, denn Hitler war mit allen Wassern gewaschen und stets be- müht, nichts außer Acht zu lassen. Es hatte nicht jeder die selben Möglichkeiten des Widerstandes, weitgehend Übereinstimmung bestand aber leider darin, daß selbst geistige Gegner der Nazis vor allem gedachten, sich jedenfalls nicht selbst am Widerstand zu beteiligen, sich lieber heraus- zuhalten und ihn irgendwelchen anderen zu überlassen." "Du hättest Dich ganz sicher nicht herausgehalten?" "Mich in solcher Situation herauszuhalten, würde mir nicht weniger abverlangen, als mich einzumischen. Ich hätte mich nicht heraus- gehalten, ganz sicher nicht." "Unter Inkaufnahme von KZ oder Tod?"
- 23 - "Die Frage ist nicht richtig gestellt. Es war gut, daß Schindler sich nicht zum Märtyrer machte, denn er wurde bis zur letzten Sekunde zur Rettung von Juden gebraucht." "Du weichst der Frage aus, Dennis." "Ich weiche überhaupt nicht aus, ich will nur nicht sagen, daß ich mein Leben weggeworfen hätte. Hätte sich mir die Gelegenheit geboten, anstelle jüdischer Kinder ins Gas zu gehen, dann wäre mir als Alternative nur der anschließende Selbstmord geblieben. Ich hätte nicht mehr leben wollen und können, wenn Kinder für mich ins Gas gegangen wären, also hätte ich für sie ins Gas gehen MÜSSEN. Ich wäre aber nicht einfach auf die Straße ge- sprungen, um zu rufen:'Hitler ist ein Mörder'. In jeder Situa- tion kann sich die Frage, welches Risiko sinnvollerweise in Kauf genommen werden sollte, anders darstellen. Ich weiß es hier und jetzt nicht, was ich damals getan hätte, weil ich nicht weiß, in welcher ganz konkreten Situation ich gewesen wäre. Was die Geschwister Scholl taten, nach denen unsere Schule heißt, war sehr mutig, aber die Chance war viel zu klein im Hinblick auf das Risiko. Der Reinheit ihrer Herzen und ihrem Mut gebühren höchste Achtung, doch sahen sie offenbar keine sinnvolle Mög- lichkeit zum Widerstand. Sie stürzten sich nach meiner Auffassung unnütz in den Tod, das hätte ich nicht getan und das hätten sie nicht tun sollen, denn gerade Menschen von ihrer Sorte gab es zu jeder Zeit viel zuwenige. An ihrem Tod waren nicht nur die Nazis schuld, sondern auch die, die aussichtsreiche Möglichkeiten zum Widerstand gehabt hatten, sich ihrer Verantwortung aber ent- zogen und die heute, sofern sie noch leben, so gern von der Gnade der späten Geburt reden hören, um sich selbst bemitleiden zu können." Wann man sich heraushalten sollte und wann nicht, das kam also ganz auf die Situation an und darauf, wie man selbst bewertete. So klug war Torben auch ohne Dennis. Doch wie analysierte man die Situation richtig, wie bewertete man Risiken und Chancen richtig, wann war eine Chance ein Risiko wert? Torben versuchte es nun direkt: "Was geschieht in Dir, wenn Du abwägst, ob Du Dich heraushalten sollst oder nicht?" "Zuerst nehme ich etwas wahr, was wehtut. Dann überlege ich, was ich sinnvollerweise tun könnte und wenn mir etwas einfällt, dann tue ich es." "Wenn Du meinst, Du könnest etwas Sinnvolles tun, dann tust Du auf jeden Fall etwas?" "Auf jeden Fall, etwas, was mir sinnvoll erscheint. "Fragst Du nicht erst noch, ob es schiefgehen könne?" "Hast Du Dich gefragt, ob es schiefgehen könne, als Du ranntest, um Jens und Till zur Ordnung zu rufen?" "Ja." "Hast Du Dich das auch in dem Moment noch gefragt, als Du laut schriest:'Hilfe, ein Verrückter!'?"
- 24 - Torben überlegte. "Nein", meinte er. "Jeder, der bereit ist, sich einzumischen, überlegt, wenn er die Zeit hat, was schiefgehen könne. Wenn er aber wirklich etwas tun will, hört er rechtzeitig auf, darüber nachzudenken, was alles sein könne, wenn es schiefgehe, und tut etwas. Es macht dann keinen Unterschied mehr, ob ein Bußgeld oder der Tod droht, im Denken findet sich dann nichts davon. Wäre dies anders, hätte jeder, der langjährig gegen Hitler wirkte, den Verstand verlieren müssen. Wenn Du Dich entschieden hast und Dir deshalb sicher bist, verfügst Du über eine innere Kraft der Unverwundbarkeit, die nicht nur Dir hilft, sondern auch Deine Gegner beeindruckt und Dir günstigenfalls bereits den Sieg beschert. Yazin wird es selbst nicht genau gewußt haben, weshalb er sich von Dir als Idiot bezeichnen ließ, ohne Dir sofort mit den Fäusten zu antworten. Er spürte nur, daß irgend- etwas ihm Unbekanntes in Dir war, was Dich so stark machte, daß er nicht einmal daran gedacht haben wird, Dich anzugreifen. Ich wußte es auch sehr wohl, daß Du voller Angst zu Jens und Till ranntest und daß Du ranntest, weil Du noch mehr Angst davor hattest, vor mir und Dir selbst als Ver- sager dazustehen, sozusagen aus Eitelkeit. Dem Mädchen hätte ich ansonsten geholfen, das wußtest Du, um das Mädchen konnte es Dir also nicht mehr gehen. Es ist die einzig christliche Art von Eitelkeit, die Dich trieb, die Angst davor, vor Dir selbst und vor dem Geiste Christi zu versagen. Angst kann Angst vertreiben, auch dieses Wissen setzten die Nazis im bösen Sinne perfekt um. Im guten Sinne setzen wir es perfekt um, wenn wir vor nichts anderem mehr Angst haben als davor, vor uns selbst und vor dem Geiste Christi zu versagen. Die Kunst des aufgeklärten Christen besteht darin, in sich selbst die christliche Angst zu erzeugen, sich selbst die klare Erkenntnis vor Augen zu führen, woran er sich schuldig macht, wenn er sich der Angst vor dem Bösen ergibt." Heikes konfirmation Zuhause bei Torben war das Leben gestorben. Heike war bereits so sehr verfallen, daß es Leuten außerhalb der Familie auffiel. Sie schien ihrer Umgebung kaum noch Aufmerksamkeit zu schenken, zog sich zuhause in ihr Zimmer zurück und ging jedem und allem so weit aus dem Wege, wie es ihr möglich scheinen mochte. Die Mutter bemühte sich einerseits, Zugang zu ihrer Tochter zu finden, andererseits tat sie ihr Bestes, um wenigstens formales Familienleben zu wahren, nach Innen wie nach Außen. Es gab in dieser Familie keine zwei Personen mehr, die auch nur annähernd zu aufrichtiger Kommunikation untereinander fähig schienen, es wurde nur noch geschwiegen, gelogen oder nebensächlicher Aus- tausch gepflegt. Nur Torbens Vater schien weitgehend unverändert, es hatte aber längst begonnen, daß ihn der nach Außen immer deutlicher erkenn- bare Zustand seiner Tochter störte. Dieser Umstand wiederum führte dazu, daß er Torbens Mutter beschuldigte, es sei ihre Schuld,
- 25 - daß Heike verfalle, sie müsse sich schließlich darum kümmern, ihrer Tochter die wahren Werte und einen positiven Bezug zum Leben zu vermitteln. Als besonders kritisch erschien es dem Rainer Holten, daß die Konfirmation Heikes nur noch wenige Wochen bevorstand, ein Höhepunkt der kirchlichen Tradition, der eine volle Kirche und ein unvergeßliches Gruppenfoto aller Konfirmanden verhieß. Wie aber würde das aussehen, wenn gerade seine Tochter wie ein Häuf- lein Elend wirkte, photographisch festgehalten auf einem Foto, das jeder Konfirmand bekam? Zudem hatte Heike erstmals Klassen- arbeiten mit "Ausreichend" und "Mangelhaft" zurückerhalten, nach einem Schnitt von immerhin 1,8 im Vorjahr. Es hatte Gespräche mit den Lehrern gegeben, man hatte den lang- jährigen Hausarzt der Familie, Dr. Janssen, aufgesucht, der irgendetwas von pubertären Störungen erzählt und ein Vitamin- präparat verschrieben hatte. Damit hatte der Vater zwar eine nach Außen vertretbar scheinende Diagnose, doch eine Lösung des Problems war nicht in Sicht. Torben tat die Schwester nicht nur leid, sondern er spürte, daß sie sich aufgegeben hatte und auf dem besten Wege sein mußte, tatsächlich zu einem psychiatrischen Fall zu werden. Es war sogar schon soweit gekommen, daß der Vater selbst es nicht mehr wollte, daß sie Sonntags mit zur Kirche ging, weil sie seinen Demonstrationszwecken offenbar mehr schaden als nutzen konnte. Keinen Sonntag aber gab es, ohne daß der Vater nach der Kirche scheinbar oder tatsächlich besorgt nach seiner Tochter gefragt wurde, worauf er jedesmal eine zutiefst besorgte Miene aufsetzte und sagte, niemand einschließlich der Ärzte wisse, wie man ihr sicher helfen könne, und ihm blute stets das Herz, der geliebten Tochter hilflos zur Seite zu stehen. In Torben wuchs die Entrüstung über den Vater und darüber, daß die eigene Schwester immer weiter ins Elend geriet, mit jeder Sekunde, so daß schließlich der Punkt gekommen war, daß es ihn nicht mehr interessierte, was er sich selbst aufladen konnte, wenn er für Heike eintrat. Nicht die geringste Ahnung hatte er, was er tun sollte, so angestrengt er auch nachdachte, doch seine Entschlossenheit war gereift. Ganz im Sinne aufgeklärten Christen- tums nach Art des Dennis Schulze sah er hin und hielt sich immer wieder vor Augen, woran er sich schuldig machen würde, wenn Heike in der Psychiatrie landete oder gar auf den Gedanken verfiele, einen Selbstmordversuch zu begehen, wie die Mutter es ja bereits einmal getan hatte. Solange es Heike gutgegangen war, hatte er sich nichts Schöneres vorstellen können, als sie zu nerven und ihr immer wieder zu erklären, daß sie eine dumme Ziege sei, doch nun war ihm klar, daß keine wahre Hilfe von Außen und, wenn nicht von ihm selbst, noch weniger von Innen kommen konnte. Obwohl seine Schwester ihn in den letzten Wochen gemieden hatte, faßte er sich ein Herz und klopfte an ihre Zimmertür, als der Vater außer Hauses war. "Ja bitte!" hörte er als genervt aus- gesprochene Aufforderung, und trat ein. "Was willst Du denn hier, und seit wann klopfst Du an, bevor Du die Tür zu meinem Zimmer aufreißt?" Heike lag beschäftigungs- los auf ihrem Bett und wirkte schwach, aber geistesklar.
- 26 - "Ich will Dir sagen, daß Vater ein Schwein sei und daß es mir wirklich leid tue, daß ich mich nicht klar auf Deine Seite ge- stellt, sondern Dich im Stich gelassen habe." "Im ersten Punkte hast Du recht, ansonsten braucht Dir nichts leid zu tun. Ich war mit zwölf Jahren auch nicht mutiger als Du jetzt." Torben wunderte sich, daß er diesen Hinweis auf sein Alter aus dem Munde der Schwester nicht als Frechheit empfand, obwohl er möglicherweise so gedacht sein konnte. "Bist Du denn jetzt mutiger?", fragte er. "Mahatma Gandhi hat als letztes Mittel der Unterdrückten den Hungerstreik genannt. Ich esse immerhin nur noch wenig. Oder soll ich nachts in die Küche schleichen, mir ein Messer holen und den im Bette liegenden Vater ermorden?" "Letzteres wäre immer noch besser, als wenn Du Dein Leben zer- stören würdest. Du hast zwar den Punkt erreicht, wo Dein Zu- stand dem Vater unbequem wird, aber das kann sehr schnell dazu führen, daß Du genau dort landest, wo Du nicht hinwolltest, als Du die Wurst aßest." "Hast Du schon ein Essen für mich vorbereitet? Ist Dein Auftreten hier vielleicht ein besonders subtiler Trick des Vaters oder ein besorgter Versuch unserer Mutter?" Nein, leicht zugänglich schien Heike dem Torben nicht zu sein, es wunderte ihn aber nicht, vor allem, da er sich lange gar nicht um seine Schwester gekümmert hatte, nachdem sie auf seine ersten zaghaften Versuche, ihr Trost zu geben, so wenig eingegangen war. "Warst Du mit zwölf Jahren noch nicht soweit, Dir selbst ein Urteil bilden und einen Entschluß fassen zu können?", fragte Torben zurück. "Na schön, dann meinst Du es meinetwegen ehrlich, und es freut mich. Mir ist es dennoch lieber, ganz vor die Hunde zu gehen, als mein Leben lang dem Geiste dieses Hauses zu dienen, den Du übrigens nicht nur in diesem Hause findest. Vater hat absolut recht, daß es außerhalb unseres Hauses nicht besser aussieht: Ein Sumpf von irren Lügnern, die sich gegenseitig höchste Ehr- barkeit erklären und die in ihren Köpfen jeden Bezug zu dem verloren haben, was menschlich und richtig ist. Unser Vater ist zwar ein Schwein, zugleich aber auch das, was man als eine arme Sau bezeichnet: Von niemandem geliebt, für nichts Wahrhaftiges gut, lebensfähig nur im Zustand gezielter Verdunklung seines eigenen Verstandes. Er haßt weder Mutter, noch Dich, noch mich, sondern ausschließlich sich selbst. Dummerweise läßt er es nur an uns aus. Also Bruder, da Du offenbar von vorpubertärer Klugheit erleuchtet bist, was schlägst Du vor, soll ich ihn erdolchen?" "Wenn uns nichts Besseres einfällt, können wir losen, wer ihn erdolcht", entgegnete Torben, es innerlich wie äußerlich igno- rierend, mit einer unziemlichen Anspielung auf sein Alter bedacht worden zu sein. "Ich denke aber, daß auch andere Kräuter gegen ihn gewachsen sein müßten. Wieso willst Du denn
- 27 - nicht fort von Albring, schlimmer als hier kann es für Dich doch gar nicht sein?" Torbens Schwester errötete leicht und sagte:"Weil ich nicht von Albring fort will." Torben ahnte, worum es gehen mußte, und er hakte nach:"Wenn Du bald nur noch als Skelett herumläufst, kann ich es mir kaum vorstellen, daß es für Dich hier etwas zu gewinnen geben könne." Heike fing an zu weinen. Oh je, dachte Torben, sie hat auch noch Liebeskummer! Diese Feststellung traf ihn gänzlich uner- wartet, zudem sah er sich nicht im Geringsten befähigt, seiner Schwester gerade in diesem Punkte Beistand zu gewähren, so daß er sich entschloß, ihn zwar zu akzeptieren, ansonsten aber nicht darauf einzugehen. "Gut, Du mußt also in Albring bleiben. Was hältst Du davon, Vater gemeinsam zu zwingen, Dich zur Oma ziehen zu lassen?" Heike sah auf."Das wäre ein neuer Aspekt. Gleichzeitig wird er uns nicht in die Psychiatrie schicken können, keine Frage. Aber willst Du dann anschließend hier wohnen und seiner Wut ausgesetzt bleiben?" "Ich habe keine Angst mehr vor Vater", sagte Torben, sich selbst nicht sicher fühlend, ob dies letztlich stimme oder nicht."Außer- dem gehe ich ihm bereits seit Wochen ziemlich erfolgreich aus dem Wege." "Und Mutter? Sie wird dann Vaters ganze Wut ausbaden müssen." "Dafür wird sie aber wissen, daß es Dir gut geht. Oder meinst Du etwa, sie fühle sich derzeit wohler in ihrer Haut? Noch ekel- hafter, als Vater nun mit ihr umgeht, wird er außerdem kaum mit ihr umgehen können." "Und wie sollen wir den Geist dieses Hauses zwingen, Bruder?" Die Frage war gut, doch leider wußte Torben keine konkrete Ant- wort. "Angst hat Vater nur vor der Wahrheit", sagte er. "Also müssen wir ihn damit zwingen." "Vor der Wahrheit hat er zwar Angst, aber das geht allen Ty- rannen so. Und ebenso wie alle anderen Tyrannen hat Vater perfekte Mechanismen zur Hand, die ihm die Wahrheit vom Halse halten. Du hast es ja gesehen, wie er in meinem Falle auf die Wahrheit reagierte. Ich wette, er hatte den ganzen Tag lang im Gericht nichts anderes getan, als sich zurechtzulegen, wie er mich unter sein Joch bekommen könne. Ich hatte ihn unterschätzt." "Unser Vater ist vom Teufel besessen", meinte Torben, "und der ist zwar mächtig, aber nicht allmächtig." Heike sah ihren Bruder nun an, als ob ihr klargeworden sei, daß er doch nur ein kindlicher Spinner sein könne. "Willst Du Dir von Rübsam kirchliche Reliquien ausleihen und in diesem Hause exorzieren?"
- 28 - "Ich meine nicht den mit den Hörnern und dem Pferdefuß, sondern den inneren Teufel, der ihn treibt, Böses zu tun und sich als christlichen Menschenfreund darzustellen. Gegen ihn anzutreten heißt, sich auf einen Kampf der Geister einzulassen. Womit hat Vater Dich denn bezwungen? Damit, daß er Angst in Dir erzeugt hat, oder? Wie will er uns zwingen, wenn wir es nicht zulassen, daß er Angst in uns entstehen läßt? Wir können Angst vor ihm verhindern, er aber kann die Angst vor der Wahrheit nie verhindern, weil seine Existenz sich in der Wahrheit auflösen würde." "Und wenn Du Deine Angst nicht verhindern kannst? Dann werde ich der Psychiatrie geopfert, und Vater wird anschließend einen Sohn haben, der ihm nie wieder Ärger machen wird!" Heike begann heftig zu weinen, und Torben begriff, daß es seiner Schwester, die selbst die Erfahrung gemacht hatte, den gemein- samen Vater unterschätzt zu haben, nicht vermittelbar sein konnte, daß ihr jüngerer Bruder tatsächlich standhaft bleiben werde. Wie gern wäre er zu ihr hingegangen, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, doch war ihm solcher Umgang mit der eigenen Schwester längst derart fremd geworden, daß er es nicht konnte. "Ich verstehe, daß Du Dich nicht auf mich verlassen zu können meinst. An Deiner Stelle würde ich ebenso denken. Aber Du stehst nicht mehr allein gegen ihn." Eigentlich hatte er vorgehabt, ihr auch noch zu sagen, daß er sie von Herzen liebe, doch wollten die Worte nicht über seine Lippen. Woran, fragte er sich, konnte es liegen, daß es ihm nie schwergefallen war, seiner Schwester Unflätigkeiten an den Kopf zu werfen, daß er es aber nicht schaffte, ihr einfach zu sagen, daß er sie liebe und sie für ihn wichtig sei? Und das, obwohl er es gerade jetzt so gern getan hätte und sie es jetzt bestimmt so nötig gebraucht hätte? Wovor hatte er dabei Angst? Und konnte er die Angst vor dem Vater tatsächlich überwinden, wenn er nicht einmal die Angst überwinden konnte, die ihn abhielt, seiner Schwester herzliche Zuneigung zu zeigen? Torben stand immer noch im Zimmer seiner Schwester und gedachte der Worte des Dennis, daß Angst mit Angst auszutreiben sei und man in sich selbst christliche Angst erzeugen müsse, um gegen das Böse furchtlos zu sein. Er wußte nicht, was ihn abhielt, seiner Schwester Zuneigung zu zeigen, aber es mußte böse sein. Er sah seine Schwester bäuchlings auf dem Bette liegen und weinen, sie hatte eindeutig die Hoffnung aufgegeben, von ihrem Bruder oder sonstwem Hilfe erhalten zu können. Torben fühlte es, als ob das Leid der Schwester an allen Fasern seines Fleisches zerrte. Er stellte sich vor, wie es in seiner Schwester aussehen mußte, die seit Wochen nichts als trübe Gedanken in ihrem Kopf gehabt haben konnte, die zunächst anläßlich seines Besuches Hoffnung geschöpft, dann aber subjektive Sicherheit erlangt hatte, daß es doch keine Hoffnung gab. Torben spürte, wie seine Augen feucht wurden, daß ihm Tränen im Gesicht standen. Nur er konnte seine Schwester nun trösten, nur er konnte ihr jetzt zeigen, daß sie geliebt und gebraucht werde. Er biß sich auf die Lippen, ging zu ihr hin, streichelte ihr zärtlich über den Kopf und sagte zu ihr: "Wenn es Dir wieder besser geht, wirst Du für mich wieder die dumme Ziege sein, aber jetzt sollst Du wissen, daß ich Dich liebe und daß Du für mich ganz wichtig bist. Ich werde es nicht
- 29 - zulassen, daß Du zugrundegehst." Seine Schwester wandte sich zu ihm, schlang ihre Arme fest um ihn und sagte:"Ich bin froh, Dich zum Bruder zu haben, Du kleines Miststück." Torben registrierte, daß auch seine Schwester es nicht vorbehaltlos vermochte, ihm Zuneigung zu zeigen, daß sie ebenso wie er das im gegenseitigen Umgang übliche Schimpfwort in ihre Aussage einflocht, um diesen Vorbehalt deutlich zu machen. Es fiel ihm jetzt aber dennoch leicht, sie auch seiner- seits fest zu umschlingen, und er spürte, wie seine Schwester sich in seiner zärtlich-kraftvollen Umarmung zunehmend beruhigte und Lebenskraft schöpfte. Torben verließ das Zimmer seiner Schwester mit dem tiefen guten Gefühl, ihr etwas gegeben zu haben, aber auch mit dem kaum we- niger guten Gefühl, sich erstmals rational nach dem Prinzip des Dennis Schulze über eine eigene Schranke hinweggesetzt zu haben. Es war das Prinzip von Kraft und Gegenkraft, das sie gerade in der Mechanik behandelten und das im Grunde ganz simpel war. Theoretisch mußte man demnach auch Todesangst überwinden können, vermutlich auch Schmerzen und alles, was einem sonst noch im Wege stehen konnte, wenn man das zu tun beabsichtigte, was man für richtig hielt. Aber wieweit funktionierte das in der Praxis, vor allem, in Torbens eigener Praxis? Wie war es denn gewesen, als Christus rief:"Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" War nicht sogar Christus stets im unge- fähren Gleichgewicht der inneren Kräfte befindlich gewesen, war er nicht selbst daran gescheitert, die guten, ihn stärkenden Kräfte so weit aufzubauen, daß sie stets die resultierende Kraft- richtung angaben? Konnte man solche Kräfte nur zeitlich punktuell in sich aufbauen, oder bestand die Möglichkeit, sie sozusagen auf Vorrat zu bilden? Und wenn, war man dann bei Gott, wurde der Geist Christi dann im eigenen Körper zu Fleisch, oder was konnte dann noch fehlen? Wie konnte man so sehr mit dem Geiste Christi verschmelzen, daß man nicht nur Jens Walters beeindrucken und die eigene Schwester umarmen konnte, sondern daß man gemeinsam mit diesem Geiste unsterblich werden konnte? Torben ahnte es nun, was es heißen mußte, daß es Grenzen gebe, hinter denen man Irrationalität nur sehe oder vermute, wie Dennis es gemeint hatte. Aber wie konnte man diese überschreiten und damit zur Erkennt- nis und zu Gott gelangen, die man nach der Auffassung des Dennis dort finden mußte?
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