Am 7. Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh, ein schwarzer Asylsuchender, der an Händen und Füßen auf einer feuerfesten Matratze fixiert war, bei lebendigem Leib im Gewahrsam der Dessauer Polizei, in deren Gewalt er sich vollständig befand und der er restlos ausgeliefert war.
Ein Mensch verbrennt im Inneren des Dessauer Polizeiapparats, und noch am gleichen Tag heißt es seitens desselben, alles sei mit rechten Dingen zugegangen: Der Arrestierte habe sich selbst entzündet; die Beamten hätten unverzüglich reagiert. Damit war die staatsanwaltliche Ermittlungslinie bereits festgelegt. Die Black Community und die "Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh" mobilisierte die Öffentlichkeit, ohne die die verschleppten Ermittlungen vielleicht eingestellt worden wären wie in vielen anderen Fällen, in denen Polizeigewalt gegen Immigranten und Flüchtlinge untersucht werden sollte. Es dauerte dann noch über zwei Jahre bis das Verfahren vor dem Landgericht Dessau zur Aufklärung der Todesumstände am 27. März 2007 eröffnet wurde. Angeklagt wurden zwei Polizeibeamte, darunter der Dienstgruppenleiter, wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Amt bzw. wegen fahrlässiger Tötung infolge unterlassener Hilfeleistung. Es wurde zu einem Prozess der Polizei. Sie allein bestimmte den Verlauf der über 22 Monate an 58 Prozesstagen geführten Verhandlung, an deren Ende die beiden Polizisten freigesprochen wurden.
Der vorsitzende Richter Manfred Steinhoff vermochte eine strafbare Mitschuld am Tod Oury Jallohs aus pflichtwidrigem Verhalten der Angeklagten im polizeilich gewebten Lügengespinst nicht zu erkennen. In der mündlichen Urteilsbegründung am 6. Dezember 2008 rügte er nicht nur die mangelhaften Ermittlungen und die schlampigen Sicherheitsvorkehrungen im Dessauer Polizeirevier, sondern kritisierte auch scharf das Aussageverhalten der Polizeizeugen, die sich in Widersprüchen, Erinnerungslücken und Lügen verstrickten. Die Polizeibeamten hätten eine Aufklärung verunmöglicht, so der vorsitzende Richter. Das Ganze habe mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun. Das Verfahren sei gescheitert. "Wir hatten nicht die Chance auf ein rechtstaatliches Verfahren." Der Prozessverlauf machte einsichtig, die gesamte Dessauer Polizeibehörde als Organisation war schuldig geworden, den Tod Oury Jallohs strukturell mit herbeigeführt zu haben: aus Nachlässigkeit, Inkompetenz, Ignoranz, Fahrlässigkeit, Versäumnissen, Koordinations- und Leitungsschwäche, aus Arroganz und Vorurteilen. In der gültigen, 66-seitig starken schriftlichen Fassung des Urteils, veröffentlicht am 2. März 2009, ist vom Scheitern des Verfahrens aufgrund des Lügenschleiers, den die Dessauer Polizei über ihren Prozess systematisch ausgebreitet hatte, keine Rede mehr. Vielmehr vermeint die 6. Große Strafkammer den Tathergang des Todes nun mehr sicher feststellen zu können. Die Polizeizeugen - ausgenommen die polizeilichen Belastungszeugen - sind nun glaubwürdig. Anhand ihrer Darstellung ist die Dessauer Polizei samt der beiden Angeklagten unschuldig. Eine Verkehrung des Prozessverlaufs.
Eine allzu offensichtlich lückenhafte und widersprüchliche Beweisführung in der Rekonstruktion des Geschehens durch das Dessauer Landgericht hat der Revision des Bundesgerichtshofes (BGH) jedoch nicht standgehalten. Am 7. Januar 2010 hob der BGH den Freispruch gegen den wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagten Dienstgruppenleiter auf. Es sei weiterhin nicht nachvollziehbar, wie sich der Brand der mit einem feuerfesten Bezug umhüllten Matratze im Einzelnen entwickelt habe und wie viel Zeit zum Eingreifen den Beamten zwischen erstem Rauchalarm und dem tödlichen Inhalationsschock Oury Jallohs tatsächlich verblieben sei. Der 4. Strafsenat beanstandete zudem die Annahme, der Dienstgruppenleiter hätte sich pflichtgemäß verhalten, obwohl er das Alarmsignal zweifach ignorierte, anschließend ein Telefongespräch führte und die Fußfesselschlüssel vergaß mitzunehmen, so dass er auf dem Weg zum Gewahrsamstrakt noch einmal habe umkehren müssen. Der Tathergang muss nun vor dem Landgericht Magdeburg neu verhandelt werden.
Gewiss, dass BGH-Urteil ist für all diejenigen, die seit fünf Jahren beharrlich auf Aufklärung der Todesumstände drängen, eine Genugtuung. Was ist aber von einem neuen Verfahren zu erwarten? Wenn nicht einer der Polizeizeugen "umfällt", wie es der vorsitzende Richter Manfred Steinhoff einmal ausdrückte, wird sich das gesamtpolizeilich verdunkelte Tatgeschehen kaum erhellen lassen, selbst wenn der Dienstgruppenleiter wegen pflichtwidrigem Verhaltens und unterlassener Hilfeleistung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden würde. Entscheidende Fragen blieben offen: Wie gelangte das Feuerzeug, mit dem Oury Jalloh die Matratze selbst entzündet haben soll, in die Gewahrsamszelle? Wieso taucht ein angekokelter Rest des Feuerzeugs erst in der zweiten Asservatenliste auf? Warum fehlen entscheidende Passagen des Videobandes über die Spurensicherung? Von wem wurde Oury Jallohs Nasenbein gebrochen und sein Mittelohr geschädigt, bevor er in der Arrestzelle Nr. 5 verbrannte? Die entscheidende Frage aber, die gerichtlich bislang ausgeblendet wurde, warum geriet er überhaupt in die Hände der Staatsgewalt und anschließend in den tödlichen Gewahrsam? Polizeiliche Alltagspraxis, die es scheinbar nicht mehr zu hinterfragen gilt. Dabei ist es der Beginn tödlich endender Gewaltverhältnisse. Ein stark angetrunkener Mann, später wird man über drei Promille Blutalkohol bei ihm feststellen, wird wegen Belästigung, ohne einem anderen irgendeinen Schaden zugefügt zu haben, gewaltsam mit angelegten Hand- und Fußfesseln in ein Polizeifahrzeug verfrachtet und auf das Revier gebracht, um seine Identität festzustellen. Dort ist er den Beamten bereits bekannt. Er wird untersucht. Ihm wird gegen seinen Widerstand ein Blutprobe entnommen. Wider besseren Wissens wird ihm ärztlich Gewahrsamstauglichkeit attestiert, damit er der polizeilichen Tortur weiter unterworfen werden kann. Gewaltsam wird er nun in den Zellentrakt bugsiert und auf die Matratze gefesselt und schließlich, unterbrochen von unregelmäßigen Kontrollen, über Stunden sich selbst überlassen. Warum musste er diese Misshandlung und den rechtswidrigen Freiheitsentzug über sich ergehen lassen? Nachdem seine Identität geklärt und er medizinisch versorgt war, hätte man ihn, menschenrechtlich und rechtstaatlich allein angemessen, nach Hause schicken können. Aber nein, er ist ein schwarzer Flüchtling und bundesdeutsch allgemein kriminalitätsverdächtig, auch wenn ihm keine strafbare Handlung vorgeworfen werden kann. Vom institutionellen Rassismus der Polizei in den Zellentrakt, in dem Oury Jalloh schließlich verbrennt, führt zumindest ein direkter Weg.
Dirk Vogelskamp / Komitee für Grundrechte und Demokratie
abgedruckt in: SOZ Nr. 2/2010, S. 4